Hubert Patterer über Österreichs Verantwortung als EU-Vorsitzland.
Die Flüchtlingskrise treibt immer tiefere Keile in die Europäische Gemeinschaft. Die Regierung sollte der Versuchung widerstehen, an der Spaltung mitzuwirken.
Die Flüchtlingskrise zersetzt das europäische Einigungswerk. Das ist kein schriller Alarmismus. Die Gefahr ist real. Jene, die die Gräben überspannen könnten, verfügen entweder nicht mehr über die Autorität oder haben keine Mehrheiten mehr hinter sich. Sie sind selbst Gefährdete.
Zu viel hat sich im Nachhall unbewältigter, geleugneter Probleme politisch in der EU verschoben. Nationale Strömungen gewinnen flächendeckend an Macht. Es gibt Achsen und konkurrierende Ich-AGs mit Markenbewusstsein, aber kein Gravitationszentrum mehr, das die Europäische Gemeinschaft im Inneren zusammenhält.
Der Machtkampf in Berlin steht zeichenhaft für die Spaltung. Auch das Unerbittliche ist stilprägend, weil da wie dort so viel Moral im Spiel ist und der Konflikt zum Duell zwischen Gut und Böse stilisiert wird. Beide Seiten halten einander vor, an den Verwerfungen schuld zu sein. Beide berufen sich darauf, dass sie das Rettende seien und das Gegenüber das Unheilbringende. So aber kann es keine Verständigung geben und keine Lösung. So riskiert man den Bruch und mästet die Radikalen.
Angela Merkel sucht heute Zuflucht in Brüssel, aber Hilfe gewähren kann nur sie sich selbst. Wenn sie nicht Einsicht übt, ist sie verloren. Die rebellischen Bayern drohen ihr, registrierte Asylwerber künftig an der Grenze abzuweisen. Sie beharren auf einer Spielregel, die sich als untauglich und unsolidarisch erwiesen hat: dass für die Flüchtlinge zuständig ist, wer sie zuerst in Empfang nimmt. Die Geografie gibt die Lastenverteilung vor, Gift für den Zusammenhalt.
Dass die österreichische Regierung sich mit den Aufsässigen folkloristisch verbrüdert, war erstens eine stilistische Ungehörigkeit und zweitens eine seltsame Definition von nationaler Interessenwahrung. Österreich wird das Auffanglager der Zurückgewiesenen, zumal Italiens neue Europäer schon erklärt haben, niemanden aus dem Norden zurückzunehmen: Prima gli italiani! Und selbst wenn sich der Dominoeffekt erfüllen sollte, wird Italien, schon einmal alleingelassen, Vergeltung üben und Asylsuchende in Hinkunft unregistriert nach Norden lotsen: Das wäre dann der frühe Achsenbruch der Willigen. Das Migrationsproblem lässt sich nicht mit Kraftmeierei lösen, nicht mit Gut gegen Böse und nicht mit oktroyierten Quoten bei offener Außengrenze, sondern nur als gemeinsame Kraftanstrengung an der Peripherie: entweder diesseits des Meeres als europäische Grenzsicherung, die dann auch militärischen Charakter wird haben müssen, oder durch Verfahrens- und Schutzzentren in Nordafrika. Das wäre der gemeinsame, ideologiefreie Nenner. Dazu braucht man Partnerländer, viel Geld, ein einheitliches Asylrecht, einen Marshallplan für das Gewissen und – einen Verteilerschlüssel.
Es stünde dem Vorsitzland Österreich gut an mitzuhelfen, diesem Projekt Konturen zu geben. Als Brückenbauer und nicht als Pate des Zerfalls.