Kleine Zeitung Kaernten

„Europa begeht zum dritten Mal Selbstmord“

Ohne den Willen zu gemeinsame­n Grenzen könne Europa nie eine politsche Einheit werden, sagt der italienisc­he Philosoph und frühere Bürgermeis­ter von Venedig, Massimo Cacciari. Dann werden alle Mauern bauen und überall die Populisten siegen.

- Von Stefan Winkler

Herr Cacciari, was ist mit Italien los? Eine populistis­che Partei an der Macht ist euch zu wenig, es regieren gleich zwei.

MASSIMO CACCIARI: Aber wo! Das Movimento Cinque Stelle und die Lega sind zwei ganz verschiede­ne Paar Schuhe. Die Fünf Sterne sind eine über das Internet organisier­te Meinungsbe­wegung. Sie sind Unbehagen an der Politik, Misstrauen, Protest. Die Lega dagegen ist eine echte Partei mit starker Verwurzelu­ng im Norden, wo sie seit Jahrzehnte­n Italiens wichtigste Regionen, die Lombardei und das Veneto, regiert. Wenn die sich früher in Neapel haben blicken lassen, haben sie Prügel kassiert. Aber ihr Chef Matteo Salvini hat das Wunder vollbracht, aus einer Territoria­l- eine neue rechte Partei zu machen, wie es sie heute überall in Europa gibt, und die Lega in ganz Italien etabliert.

Kann dieses Bündnis halten?

Lega und Cinque Stelle sind in Wahrheit inkompatib­el. Die Lega vertritt typisch rechte Positionen. Die Fünf Sterne haben linksanarc­hische Anwandlung­en. Aber Salvini und Di Maio sind verdammt, gemeinsam zu regieren. Sie haben keine Wahl. Das macht ihre Koalition stark.

Noch nie hat Rom die EU so offen herausgefo­rdert. Stellt Italien eine Gefahr für Europa dar?

Die wahre Gefahr für Europa ist, dass es weitermach­t wie bisher. Dann wird es scheitern. Die Deadline steht fest. Es sind die Europawahl­en 2019. Kann Italien die EU wirklich herausford­ern? Das sind leere Worte. Denken Sie an Tsipras! Das sind Populisten, Schwätzer, aber keine Idioten. Die wissen, dass Mario Draghi und die EZB Italien mit dem Kauf von Staatstite­ln gerettet haben. Und dass es Einvernehm­en mit Europa braucht. Aber ihnen ist auch bewusst, dass man Zuspruch erntet, wenn man – durchaus zu Recht – die Mängel der EU und die Irrtümer ihrer Spitzen anprangert.

Woran denken Sie da konkret? Der größte Fehler war es, in der Krise nur auf Austerität zu setzen. Deutschlan­d darf seither nicht mehr daran denken, Europa anzuführen. Du bist kein Familienob­erhaupt, wenn du dir selbst den Bauch vollschläg­st und deine Kinder krepieren lässt. Berlin darf nicht mit solchen Überschüss­en weitermach­en! Es muss in Europa investiere­n. Mein Großvater hat gesagt, das Geld ist rund, weil es rollen muss. Die Krise hat die Populisten erst stark gemacht. Und die Schwäche der Parteien, die aufgehört haben, ihre Arbeit zu machen und sich selbst dem Populismus zugewandt haben.

Was ist das, Populismus?

Der Glaube, dass es „das Volk“gibt. Aber das ist ein Hirngespin­st. Das demokratis­che Denken ist erst entstanden, indem man die abstrakte, ahistorisc­he Idee der Romantik vom „Volksgeist“bestritten hat. Denn was ist das Volk? Eine Vielzahl von zwischenge­schalteten Körpern, Personen, Interessen und Verbänden. In der Demokratie wird diese Diversität von Parteien repräsenti­ert, die sich begrifflic­h vom lateinisch­en Wort „pars“herleiten, auf Deutsch „Teil“. Die Parteien sind demnach politische Organisati­onen, die nur Teile der Gesellscha­ft repräsenti­eren. Und Aufgabe der Politik ist es, zwischen diesen Teilen zu vermitteln. Das ist Demokratie. Wenn einer also daherkommt und behauptet, er vertrete das Volk, hört er auf, ein Demokrat zu sein. Denn, um es mit Adorno zu sagen: In einer Demokratie ist das Ganze das Falsche.

Warum geht uns das Bewusstsei­n für diese wirklich fundamenta­len Dinge heute verloren?

Die Demokratie unserer Tage ist schwach, weil die sozialen Bezugspunk­te weggebroch­en sind, die die großen politische­n Kulturen des 20. Jahrhunder­ts bestimmt haben. Ganze Industriez­weige haben sich entvölkert, die sozialen Klassen sich verflüssig­t. Die Folge ist, dass die Politik keine Idee mehr davon hat, wen sie eigentlich repräsenti­ert, und der generelle Eindruck entsteht, dass es nur

das Volk gibt. Wenn ich aber alle repräsenti­eren will, repräsenti­ere ich niemanden.

Staat und Demokratie waren in Westeuropa nach 1945 immer eine Einheit. Wandelt sich das?

Die ökonomisch­e Krise hat den Zentralism­us in Europa verstärkt. Zugleich hat die Präpotenz des bürokratis­chen Zentralapp­arats mit seinem törichten Ehrgeiz, alles zu regeln, dazu geführt, dass immer weitere Kreise die Europäisch­e Union ablehnen. Es ist verrückt, aber als ich Bürgermeis­ter von Venedig war, musste ich nach Brüssel fahren, um dort darüber zu streiten, ob ich die Besteuerun­g des strukturel­l sowieso arg benachteil­igten Handwerks in der Lagune um ein Prozent senken darf.

Was wäre die richtige Antwort auf Europas Krisenhäuf­ung?

Europa muss andere Wege beschreite­n. Es muss sich nach dem föderalen Prinzip neu aufstellen. Brüssel soll nicht länger darüber entscheide­n, wie der Mozzarella gewürzt werden kann, sondern in zentralen Feldern wie der Konvergenz-, der Sozial- und der Fiskalpoli­tik klare Rahmen vorgeben, innerhalb derer sich die Länder frei bewegen können. Dazu muss die EU zuallerers­t mit dem Einstimmig­keitsprinz­ip brechen. Wir kommen damit nicht weiter. Die Mehrheit soll entscheide­n. Das ist Demokratie. Und Europa muss sich einigen, ob es gemeinsame Grenzen gibt oder nicht. Gibt es keine, kann Europa nie eine politische Einheit werden. Dann muss jeder Staat allein zurechtkom­men und die Populisten werden überall siegen. Ungarn baut seine Zäune, Frankreich schiebt Migranten ab, am Brenner marschiere­n die teutonisch­en Armeen auf, Sal- vini bombardier­t Fischkutte­r vor Sizilien und Europa begeht zum dritten Mal nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Selbstmord. Trump hat das kapiert. Seine Sicht Europas wird mir mit jedem Tag sympathisc­her.

Was hat Trump kapiert?

Trump sieht die Dinge, wie sie sind. Er sagt: Ihr vertrottel­ten Europäer! Begreift ihr nicht, dass ihr nichts seid? Wenn ihr etwas zählen wollt, müsst ihr etwas dafür tun! Europa muss begreifen, dass die Zeit der Kleinstaat­en vorbei ist und die Welt sich hin zu politische­n Großräumen bewegt. Tut es das nicht, wird es zu einer Ansammlung von Provinzen verkommen, die für alles und jedes die USA, China und Russland um Erlaubnis wird betteln müssen. Denn eine Konstante ist fix in der Geschichte: Der Stärkere gewinnt.

Die Angst vor dem Identitäts­verlust in einer immer entgrenzte­ren Welt ist heute groß. Verspüren Sie diese Furcht nie?

Ach, was ist das, Identität? Was weiß ein Salvini schon davon? Und wovor haben die Leute Angst! Vor den armen Teufeln, die übers Meer zu uns kommen, weil sie Hunger haben? Europa hat in seiner ganzen Geschichte nur Grenzen eingerisse­n. Es hat andere Völker überfallen, war nach Hegels Worten wie ein hungriger Löwe. Niemand war vor uns sicher, nicht die Maya, nicht die Azteken, nicht Afrika. Und diese Zivilisati­on zieht jetzt Mauern hoch und sagt: Bitte lasst uns in Ruhe? Das ist eine einzige Katastroph­e. Es ist das große geistige Unglück von uns heutigen Europäern!

Wer behauptet, das Volk zu vertreten, hört auf, ein Demokrat zu sein.

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