Mays neuer Brexit-Plan: Kanzler Kurz vermittelt heute in London.
Nach der überraschenden Wende von Theresa May zu einem weichen „Brexit“trifft Kanzler Kurz heute die Premierministerin in London. Davor besuchte er die Grenze in Irland.
Genau 20 Jahre ist es her, dass einer der blutigsten Konflikte der jüngeren Vergangenheit auf dem europäischen Kontinent mithilfe der EU gelöst wurde. Das Karfreitagsabkommen von 1998 sicherte die Aufteilung der Macht zwischen den irisch-katholischen Nationalisten in Nordirland und den protestantischen Loyalisten. Es wurde aber auch eine schrankenlose Grenze vereinbart, die den Austausch zwischen Republik und Vereinigtem Königreich ermöglichte.
Seither hat sich die Lage in der Unruheprovinz entspannt. Viele Iren befürchten aber, der schwierige Friedensprozess könnte durch den Brexit wieder aufbrechen. Eine harte Grenze nach dem EU-Austritt der Briten zwischen dem Norden und Süden Irlands würde ein Kernelement des Friedensabkommens torpedieren. Deshalb hat sich diese Frage als ein Schlüsselproblem der Verhandlungen Londons mit Brüssel entpuppt.
Kanzler Sebastian Kurz reiste als EU-Ratsvorsitzender am Sonntagabend nach Irland und wurde von Premier Leo Varadkar mit einem Staatsdinner im Dublin Castle empfangen. Heute will er sich die Lage an der Grenze anschauen, bevor er weiter zur britischen Premierministerin Theresa May reist und mit ihr über die Möglichkeiten einer Lösung des Knack-
Bundeskanzler Sebastian Kurz
punktes für die EU und Großbritannien redet.
May tritt Kurz gestärkt entgegen. Nach monatelangem Gezerre hat sich die britische Regierung am Freitag auf einen Brexit-Plan geeinigt. Hardliner der britischen Konservativen warfen May am Sonntag daraufhin vor, sie „total verraten“zu haben. Mit ihrem Schwenk zu einem „weichen Brexit“habe die Regierungschefin alle Schwüre gebrochen, die es in den vergangenen zwei Jahren gab. „Die Zeit für einen Führungswechsel ist da“, sagte der Tory-Abgeordnete Andrew Bridgen.
Dutzende von Tory-Hinterbänklern hatten in den vergangenen Wochen Mays Ablöse gefordert. Nun wird immer wahrscheinlicher, dass die Parteirechte noch im Sommer eine Neuwahl zum Parteivorsitz erzwingen wird – was im Vereinigten Königreich erneute Turbulenzen auslösen würde.
einem Coup die Brexiteers in ihrem Kabinett „auf Linie“gebracht. Den Wortführern wie Außenminister Boris Johnson drohte sie mit Rauswurf, sollten sie öffentlich von der Position abweichen, die in einer Klausur auf Mays Landsitz Chequers vereinbart worden war. Diese neue Brexit-Position, die auf weitere enge Anbindung Großbritanniens an die EU zielt statt auf einen radikalen Bruch mit Europa, stellt ein merkliches Abrücken von Mays ursprünglichen Plänen dar. Noch bis vor
Kurzem hatte sie gelobt, ihr Land „hundertprozentig“aus Zollunion und Binnenmarkt der EU zu führen, keine Freizügigkeit zwischen der Insel und dem Kontinent zu dulden und europäischen Gerichten alle Befugnisse abzusprechen.
Da aber immer mehr Unternehmen vor den „katastrophalen“Folgen eines harten Brexits warnten und viele Abgeordnete im Unterhaus für eine weichere Linie plädierten, milderte May die Regierungsposition ab.
Nun wünscht sich London eine gemeinsame Freihandelszone mit der EU, in der die Briten dem europäischen „Regelwerk“folgen würden. Diese „Harmonisierung“soll einen reibungslosen Handel ermöglichen – und eine offene Grenze in
Irland garantieren. Der Dienstleistungsbereich, darunter der für London zentrale Finanzsektor, soll in die „Harmonisierung nicht inkludiert sein. „Flexible“Vereinbarungen sollen die Verbindungen zur EU regeln. Bei Unstimmigkeiten will London in Schiedsverfahren Urteile des Europäischen Gerichtshofs akzeptieren. Bei den Zöllen will sich London nach dem Brexit das Recht sichern, eigene Handelsverträge mit aller Welt einzugehen und Zölle eigener Art zu erheben. Auf Waren, die in die Europäische Union gehen, will es aber EU-Zölle erheben und sie an die Union abführen. „Automatische“Personenfreizügigkeit soll es nach dem Brexit nicht mehr geben. Aber einen „speziellen Zugang“für EUBürger nach Großbritannien schließt May nicht aus.
Einzelne Minister
wehrten sich auf der Klausur gegen Mays Brexit-Plan, gaben am Ende aber klein bei. Außenminister Johnson nannte den Plan in Chequers „einen Haufen Scheiße“, stimmte ihm aber zu. Brexit-Minister David Davis hatte Mays Zollideen vor Kurzem noch als „verrückt“bezeichnet.
Die EU hat indes zurückhaltend auf die britischen Pläne für die Zeit nach dem EU-Austritt des Landes reagiert. Die Staatengemeinschaft werde genau prüfen, ob die Vorschläge „umsetzbar und realistisch sind“, erklärte der Chefunterhändler für den Brexit, Michel Barnier, in der Nacht auf Samstag.