Mächtig, mächtiger, Erdo˘g an: der türkische Präsident im Zenit.
ANALYSE. Der türkische Präsident ist als Staatsund Regierungschef vereidigt und damit im Zenit seiner Macht. Eine neue Zeit bricht an in der Türkei: Der große Bruder sieht jeden.
Recep Tayyip Erdog˘an hat sein Ziel erreicht. Gestern hat der alte und neue Staatspräsident in Ankara den Amtseid abgelegt. Nun ist er der mächtigste Politiker der Türkei seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Ab sofort entscheidet er alles. Er bildet selbst sein Kabinett, das er am Montag vorstellte. Einen Ministerpräsidenten gibt es nicht mehr, denn in der von Erdog˘an per Referendum durchgedrückten neuen Verfassung entfällt der Posten des Regierungschefs ganz. Staats- und Regierungschef sind derselbe: Recep Tayyip Erdog˘an.
Es ist eine Machtfülle, die eigentlich durch nichts mehr eingeschränkt wird. Richter, die unliebsam entscheiden, stehen bald selbst vor Gericht. Journalisten, die unliebsam berichten, sind bald im Gefängnis. Von der zersplitterten Opposition droht keine Gefahr – die Wahlen haben es erneut gezeigt. Es gibt keinen Machtfaktor außerhalb des Staatsapparates, der Erdog˘an gefährlich werden könnte.
Innerhalb des Staatssystems gibt es nur noch eine potenzielle Gefahrenquelle, von der schon seit der Zeit der Osmanen immer Ungemach drohte für den jeweiligen Herrscher des Landes: die Sicherheitskräfte. Viermal brachte das Militär seit 1960 gewählte Regierungen zu Fall, und der fünfte Versuch – gegen Erdog˘an – misslang im
Juni 2016.
So mutet es an wie ein Signal für Erdog˘ans künftigen Regierungsstil als Präsident, dass am Wochenende per Dekret einmal wieder ein eiserner Besen durch die Reihen von Armee, Luftwaffe, Marine und Polizei fegte. 18.632 öffentlich Bedienstete wurden gefeuert. Sie alle müssen gewärtigen, bald wegen „Terrorismus“vor Gericht zu S kommen. elbst Experten geraten ins Grübeln bei der Frage, die wievielte Säuberungswelle dies nun genau war. Allein seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juni 2016 wurden – mit den jetzigen 18.000 – insgesamt zwischen 170.000 und 190.000 öffentliche Bedienstete entlassen. Gegen die meisten von ihnen gab es Ermittlungsverfahren, zum Stand April 2018 sind seit dem Coup 77.000 Türken inhaftiert worden unter dem Vorwurf, an dem Putsch beteiligt gewesen zu sein oder mit den Putschisten sympathisiert zu haben. All das im Rahmen der Notstandsgesetze, die nach dem Putsch eingeführt und siebenmal verlängert wurden.
Das erklärte Ziel dieser Säuberungen ist es, „Gülenisten“aus dem Staatsapparat und den Sicherheitskräften zu entfernen, also Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdog˘an beschuldigt ihn,
den Putschversuch organisiert zu haben. Experten sind sich da weniger sicher. Gülen-Anhänger nahmen zweifellos am Coup teil, die treibende Kraft dürften aber die letzten säkular gesinnten „Kemalisten“im Militär gewesen sein, gegen die kurz vor dem Putsch eine Entlassungswelle in Vorbereitung war.
Regierungsnahe Medien schilderten die neuen Entlassungen als „die letzten“. Ein Ende der Säuberungen ist damit aber nicht unbedingt gekommen. Es gab sie ja auch nicht erst seit dem Putschversuch oder seit den Notstandsgesetzen. Massenhafte Verhaftungswellen gegen potenzielle Gegner gibt es unter Erdog˘an seit zehn Jahren. Die sogenannten Ergenekon-Prozesse gegen 275 Militärs begannen im Jahr 2008. D Weitere folgten. amals ging es darum, die politische Macht des säkularen, „kemalistisch“gesinnten Militärs zu brechen, dessen Führung es als seine Aufgabe sah, islamistische
Kräfte von der Macht fernzuhalten und das Land im Westen zu verankern. Inzwischen ist das Militär weitgehend transformiert, kemalistische Netzwerke dürfte es nur noch als schwache Überbleibsel geben.
Eine treibende Kraft, um die Streitkräfte zu säubern und zu unterwandern, waren Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in der Justiz und der Polizei.
Erdog˘an ließ das geschehen, weil es ihm nützte. Er sah die Gülenisten als ein Instrument in seinem Kampf gegen das Militär. Die Folge war am Ende eine Schwächung der Kemalisten und eine Stärkung der Gülenisten in den Streitkräften. Beide zusammen wandten sich dann beim Putschversuch im Juni 2016 gegen Erdog˘an – die Gülenisten deswegen, weil Erdog˘an sie bereits seit einigen Jahren in die Enge trieb, da die einstigen Verbündeten ihm zu mächtig geworden waren. Längst aber geht es nicht mehr um Gülenisten oder Kemalisten. Es gibt sie kaum noch.
Seit 2016 kann Erdog˘ans strafende Hand jeden treffen, der ihm nicht loyal genug erscheint. Die seit 2007 anhaltenden periodischen Verhaftungs- und Entlassungswellen ähneln immer mehr den paranoiden Säuberungen Stalins in der Sowjetunion der 1930er-Jahre. Es geht kaum noch darum, tatsächliche Umsturzversuche zu unterbinden, sondern um die Einführung eines Systems, in dem niemand einflussreich genug werden kann, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich gegen N den Herrscher zu stellen. iemand – außer den Allerverlässlichsten – bleibt lange genug an seinem Posten, um Macht aufzubauen. Jeder muss sich Sorgen darüber machen, wie man ihn an höherer Stelle politisch einschätzt. Längst gehört es zu den Routineaufgaben der Behörden, Zehntausende Menschen politisch zu profilieren: Wer sympathisiert mit wem, wie steht derjenige zu Erdog˘an? Studenten, Lehrer, öffentlich Bedienstete, Angehörige der Sicherheitskräfte – alle werden beobachtet, eingeschätzt, aufgelistet. Solche Listen sind die Basis der jeweils aktuellen Säuberungswellen. Nur weil es diese Listen bereits gab, konnten die Behörden nach dem Putschversuch schnell Zehntausende entlassen und viele von ihnen verhaften.
Wie das funktioniert, geht indirekt aus den offiziellen, stichwortartigen Begründungen für die jetzigen Entlassungen hervor. „Emniyet“steht da in vielen Fällen, Grundlage für die Entlassung war also eine Einschätzung der Sicherheitsbehörden. In vielen Fällen stehen da aber auch Vermerke wie „Schule“. Jemand hat den Betreffenden, vielleicht einen Lehrer oder Studenten, also wohl dort denunziert. Oder: „Nach Meinung der Gemeinschaft“– da mögen Nachbarn oder der Nachbarschaftsvorsteher jemanden verpfiffen haben.
Eine neue Zeit bricht an in der Türkei. Der große Bruder sieht jeden.