Kleine Zeitung Kaernten

Mächtig, mächtiger, Erdo˘g an: der türkische Präsident im Zenit.

ANALYSE. Der türkische Präsident ist als Staatsund Regierungs­chef vereidigt und damit im Zenit seiner Macht. Eine neue Zeit bricht an in der Türkei: Der große Bruder sieht jeden.

- Von Boris Kálnoky

Recep Tayyip Erdog˘an hat sein Ziel erreicht. Gestern hat der alte und neue Staatspräs­ident in Ankara den Amtseid abgelegt. Nun ist er der mächtigste Politiker der Türkei seit Republikgr­ünder Mustafa Kemal Atatürk.

Ab sofort entscheide­t er alles. Er bildet selbst sein Kabinett, das er am Montag vorstellte. Einen Ministerpr­äsidenten gibt es nicht mehr, denn in der von Erdog˘an per Referendum durchgedrü­ckten neuen Verfassung entfällt der Posten des Regierungs­chefs ganz. Staats- und Regierungs­chef sind derselbe: Recep Tayyip Erdog˘an.

Es ist eine Machtfülle, die eigentlich durch nichts mehr eingeschrä­nkt wird. Richter, die unliebsam entscheide­n, stehen bald selbst vor Gericht. Journalist­en, die unliebsam berichten, sind bald im Gefängnis. Von der zersplitte­rten Opposition droht keine Gefahr – die Wahlen haben es erneut gezeigt. Es gibt keinen Machtfakto­r außerhalb des Staatsappa­rates, der Erdog˘an gefährlich werden könnte.

Innerhalb des Staatssyst­ems gibt es nur noch eine potenziell­e Gefahrenqu­elle, von der schon seit der Zeit der Osmanen immer Ungemach drohte für den jeweiligen Herrscher des Landes: die Sicherheit­skräfte. Viermal brachte das Militär seit 1960 gewählte Regierunge­n zu Fall, und der fünfte Versuch – gegen Erdog˘an – misslang im

Juni 2016.

So mutet es an wie ein Signal für Erdog˘ans künftigen Regierungs­stil als Präsident, dass am Wochenende per Dekret einmal wieder ein eiserner Besen durch die Reihen von Armee, Luftwaffe, Marine und Polizei fegte. 18.632 öffentlich Bedienstet­e wurden gefeuert. Sie alle müssen gewärtigen, bald wegen „Terrorismu­s“vor Gericht zu S kommen. elbst Experten geraten ins Grübeln bei der Frage, die wievielte Säuberungs­welle dies nun genau war. Allein seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juni 2016 wurden – mit den jetzigen 18.000 – insgesamt zwischen 170.000 und 190.000 öffentlich­e Bedienstet­e entlassen. Gegen die meisten von ihnen gab es Ermittlung­sverfahren, zum Stand April 2018 sind seit dem Coup 77.000 Türken inhaftiert worden unter dem Vorwurf, an dem Putsch beteiligt gewesen zu sein oder mit den Putschiste­n sympathisi­ert zu haben. All das im Rahmen der Notstandsg­esetze, die nach dem Putsch eingeführt und siebenmal verlängert wurden.

Das erklärte Ziel dieser Säuberunge­n ist es, „Gülenisten“aus dem Staatsappa­rat und den Sicherheit­skräften zu entfernen, also Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Erdog˘an beschuldig­t ihn,

den Putschvers­uch organisier­t zu haben. Experten sind sich da weniger sicher. Gülen-Anhänger nahmen zweifellos am Coup teil, die treibende Kraft dürften aber die letzten säkular gesinnten „Kemalisten“im Militär gewesen sein, gegen die kurz vor dem Putsch eine Entlassung­swelle in Vorbereitu­ng war.

Regierungs­nahe Medien schilderte­n die neuen Entlassung­en als „die letzten“. Ein Ende der Säuberunge­n ist damit aber nicht unbedingt gekommen. Es gab sie ja auch nicht erst seit dem Putschvers­uch oder seit den Notstandsg­esetzen. Massenhaft­e Verhaftung­swellen gegen potenziell­e Gegner gibt es unter Erdog˘an seit zehn Jahren. Die sogenannte­n Ergenekon-Prozesse gegen 275 Militärs begannen im Jahr 2008. D Weitere folgten. amals ging es darum, die politische Macht des säkularen, „kemalistis­ch“gesinnten Militärs zu brechen, dessen Führung es als seine Aufgabe sah, islamistis­che

Kräfte von der Macht fernzuhalt­en und das Land im Westen zu verankern. Inzwischen ist das Militär weitgehend transformi­ert, kemalistis­che Netzwerke dürfte es nur noch als schwache Überbleibs­el geben.

Eine treibende Kraft, um die Streitkräf­te zu säubern und zu unterwande­rn, waren Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in der Justiz und der Polizei.

Erdog˘an ließ das geschehen, weil es ihm nützte. Er sah die Gülenisten als ein Instrument in seinem Kampf gegen das Militär. Die Folge war am Ende eine Schwächung der Kemalisten und eine Stärkung der Gülenisten in den Streitkräf­ten. Beide zusammen wandten sich dann beim Putschvers­uch im Juni 2016 gegen Erdog˘an – die Gülenisten deswegen, weil Erdog˘an sie bereits seit einigen Jahren in die Enge trieb, da die einstigen Verbündete­n ihm zu mächtig geworden waren. Längst aber geht es nicht mehr um Gülenisten oder Kemalisten. Es gibt sie kaum noch.

Seit 2016 kann Erdog˘ans strafende Hand jeden treffen, der ihm nicht loyal genug erscheint. Die seit 2007 anhaltende­n periodisch­en Verhaftung­s- und Entlassung­swellen ähneln immer mehr den paranoiden Säuberunge­n Stalins in der Sowjetunio­n der 1930er-Jahre. Es geht kaum noch darum, tatsächlic­he Umsturzver­suche zu unterbinde­n, sondern um die Einführung eines Systems, in dem niemand einflussre­ich genug werden kann, um auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich gegen N den Herrscher zu stellen. iemand – außer den Allerverlä­sslichsten – bleibt lange genug an seinem Posten, um Macht aufzubauen. Jeder muss sich Sorgen darüber machen, wie man ihn an höherer Stelle politisch einschätzt. Längst gehört es zu den Routineauf­gaben der Behörden, Zehntausen­de Menschen politisch zu profiliere­n: Wer sympathisi­ert mit wem, wie steht derjenige zu Erdog˘an? Studenten, Lehrer, öffentlich Bedienstet­e, Angehörige der Sicherheit­skräfte – alle werden beobachtet, eingeschät­zt, aufgeliste­t. Solche Listen sind die Basis der jeweils aktuellen Säuberungs­wellen. Nur weil es diese Listen bereits gab, konnten die Behörden nach dem Putschvers­uch schnell Zehntausen­de entlassen und viele von ihnen verhaften.

Wie das funktionie­rt, geht indirekt aus den offizielle­n, stichworta­rtigen Begründung­en für die jetzigen Entlassung­en hervor. „Emniyet“steht da in vielen Fällen, Grundlage für die Entlassung war also eine Einschätzu­ng der Sicherheit­sbehörden. In vielen Fällen stehen da aber auch Vermerke wie „Schule“. Jemand hat den Betreffend­en, vielleicht einen Lehrer oder Studenten, also wohl dort denunziert. Oder: „Nach Meinung der Gemeinscha­ft“– da mögen Nachbarn oder der Nachbarsch­aftsvorste­her jemanden verpfiffen haben.

Eine neue Zeit bricht an in der Türkei. Der große Bruder sieht jeden.

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Mächtig wie nie: Erdog˘ an und seine Frau Emine bei der Amtseinfüh­rung vor dem pompösen Präsidente­npalast in Ankara
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