Kleine Zeitung Kaernten

Lesen Sie Auszüge aus dem Siegertext beim Bachmann-Preis.

Mit dem Text „Frösche im Meer“hat die in Wien lebende Ukrainerin Tanja Maljartsch­uk am Sonntag in Klagenfurt den Bachmannpr­eis gewonnen. Hier Auszüge aus dem Text über die Freundscha­ft eines illegalen Einwandere­rs mit einer dementen Frau.

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Hätte Petro Kinder, würden sie ihn vielleicht fragen, wie er zu seinem Beruf gekommen ist. Kinder fragen so etwas gerne. Sie idealisier­en die Arbeit, solange sie selbst nicht arbeiten gehen müssen. Ich möchte Polizist werden, sagen sie verträumt, oder Ballerina, oder Ärztin, oder Astronaut. Niemand sagt: Ich möchte Müllmann werden. Keine Volksschul­lehrerin beendet ihren Unterricht mit dem Zuspruch: Lernt fleißig, Kinder, damit ihr gute Weihnachts­baumverkäu­fer werdet. Petro ist sowohl Weihnachts­baumverkäu­fer als auch Müllmann gewesen. Beide Jobs fand er nicht gut. Bäume verkaufen ist das Letzte, besonders, wenn sie aus den Karpaten geschmugge­lt werden. Müllmann zu sein, wäre in Ordnung gewesen, es riecht weniger, als man denkt, jedoch verlangten sie bereits nach dem ersten Arbeitstag Petros Pass.

Als er das Wort hörte, lief er so schnell wie möglich davon. Seit siebzehn Jahren hat er keinen Pass. Ihm wurde gesagt, ohne Papiere komme man besser mit der Polizei aus, man habe nämlich die Möglichkei­t, sich als Flüchtling auszugeben. Sonst stecken sie dich ins Gefängnis, wenn sie dich erwischen, Petro, wurde ihm gesagt. Gefängniss­e in diesem Land sind voll mit uns, Petro, voll mit uns, wurde ihm gesagt.

Er hatte seinen Pass in kleine Stücke zerrissen und an einem schönen sonnigen Sonntagnac­hmittag in die Donau geworfen. Dabei dachte Petro mit einem Lächeln, dass ein Teil ihm mit den Donauwelle­n nach Hause zurückkehr­en werde. Bevor er die erste Seite des Passes aus Sicherheit­sgründen verschluck­te, spuckte Petro noch ins Wasser, als wollte er das Zauberritu­al mit seinem Speichel besiegeln. Dann blieben ihm nur noch der Vorname und die Erinnerung. Einen Vornamen brauchte er für die vielen Tage, die er nicht mehr zählte, und die Erinnerung für die vielen Nächte, in denen er wach blieb. Petro löste sich unter den Fremden auf, und niemand suchte nach ihm, noch nicht mal die Polizei, niemand wollte wissen, was mit ihm passierte. Die alte Straßenbah­n mit den drei Stufen zum Einstieg wurde durch die moderne ausgetausc­ht, zweimal gab es verheerend­e Überschwem­mungen. Jahre vergehen schnell, wenn man das eigene Leben nicht schätzt. Petro hatte dieses und jenes gemacht, bis sich irgendwann die Gelegenhei­t ergab, im Froschpark, der zu einem kleinen gleichnami­gen Schloss am nördlichen Rand der Stadt gehörte, zu kehren. Der Besitzer des Schlosses fragte nie nach seinen Papieren und bezahlte wöchentlic­h in bar; manchmal mehr, manchmal weniger, abhängig davon, wie seine Laune war.

(...)

Petro trug einen Sack voll mit schwarzem Laub aus dem Vorjahr, als die alte Dame sich wieder einmal zu ihm gesellte: „Haben Sie hier, im Froschpark, jemals Frösche gesehen?“Es war März und eiskalt. „Nein, nie, Frau Grill“, gestand Petro bedau- ernd, was Frau Grill aber nicht traurig machte. „Wissen Sie, warum?“Ihre Stimme klang verschwöre­risch. Petro ließ den Sack auf den frisch gekehrten Boden fallen. „Warum denn, Frau Grill?“„Weil sie alle bei mir im Haus wohnen! Niedliche Tiere!“Frau Grill war sehr, sehr alt, vielleicht über neunzig. Deshalb staunte Petro, dass sie den Weg zum Park fast täglich und ganz ohne Hilfsmitte­l schaffte. Die weiß-blaue Haut ihres runden Gesichts hing nicht herunter, sondern wickelte Kiefer, Stirn und Wangenknoc­hen fest ein, als wollte sie die alte Dame daran hindern, aus ihrem Körper zu verschwind­en. Frau Grill zwinkerte Petro zu und trottete langsam Richtung Tor. „Sie sollten mich besuchen“, rief sie noch, „dann zeige ich Ihnen meine Frösche.“Danach kam sie nie wieder. Danach kam sie nie wieder.

Frau Grill kam auch dann nicht, als die ersten Leberblümc­hen und Krokusse im Park aus der Erde sprossen, diese Auferstehu­ng der Natur hatte sie früher nie ausgelasse­n. Besorgt ging Petro nach der Arbeit zu dem Haus, in dem Frau Grill wohnte. Vor der Eingangstü­r fand er neben den vielen Klingelsch­ildern auch das von Frau Grill. War der Hausbesitz­er zu faul gewesen, nach ihrem Tod das Schild auszutausc­hen? Petro drückte die Klingel und wartete lange. Eine Türkin kam aus dem Haus und musterte ihn misstrauis­ch. Sie schob einen karierten Einkaufstr­olley vor sich her.

„Zu wem möchten Sie?“, fragte die Frau. „Grill“, stotterte Pevon tro und bereute fast, hergekomme­n zu sein. „Frau Grill. Wir sind ... sie ist ... ich bin ...“„Sind Sie von der Heimhilfe?“, die Nachbarin trat einen Schritt zurück und ließ ihn ins Haus. „Sagen Sie Ihrem Chef bitte, dass es so nicht weitergehe­n kann. Frau Grill ist völlig verrückt und eine Gefahr für das ganze Haus!“Petro lief schnell die Treppen hinauf und stellte neidisch fest, dass die Türkin viel besser Deutsch sprach als er. Im dritten Stock blieb er stehen. Frau Grill wartete bereits auf der Schwelle und lächelte ihm freundlich zu. Abgemagert, gebeugt, in einer fleckigen weißen Bluse und einer viel zu weiten Haushose sah sie wie ein verstörter Geist aus. Die dünnen Lippen hatte sie in flammendem Rot geschminkt. „Komm herein“, sagte sie fröhlich. „Wie geht es Ihnen, Frau Grill?“Petro betrat die Wohnung, die groß und muffig war, jedoch gut aufgeräumt, altmodisch eingericht­et, gemusterte Teppiche lagen auf dem Boden. Im Schirmstän­der steckten Regenschir­me, deren Stiele, Speichen und Spitzen aus Holz waren, vermutlich so alt wie Frau Grill selbst. Petro zog die Schuhe aus. „Sie haben das Blühen der Leberblümc­hen im Froschpark verpasst“, sagte er. „Mir war nicht danach“, antwortete Frau Grill. „Ich habe dich hergeholt, weil ich dir etwas sagen möchte, sonst würde ich dich nicht stören, wir haben uns ja ewig nicht gesehen, Hans.“Sie ging langsam den langen Flur entlang und lud Petro ein, ihr zu folgen. Dabei warnte sie: „Achtung, Frösche nicht zerquetsch­en! Sie sind

aber manchmal gelangen sie unter die Füße.“Petro murmelte, er werde vorsichtig sein. Frau Grill ging ins Schlafzimm­er voraus und setzte sich auf das Bett. „Nimm Platz“, sagte sie. „Du siehst, ich habe deine Hälfte nicht berührt.“Die andere Hälfte des Doppelbett­s mitsamt Decke und zwei Kissen war sorgfältig mit einem lilafarben­en Spitzenübe­rwurf verhüllt. Der Hügel ähnelte einem Grab. Die rot bemalten Lippen leuchteten in der Dämmerung. Das Tageslicht schwand mit je- dem Augenblick mehr und wischte das Alter weg, dämpfte Frau Grills Demenz, ihre viel zu weite graue Haushose, ihre weiße Bluse mit den Tomatenfle­cken. Nunmehr war sie eine Frau außerhalb der Zeit, die Petros Hand liebkoste und ihm kaum hörbar ins Ohr flüsterte: „Vielleicht können wir wieder neu anfangen, Hans?“

(...)

Petro ging in die Küche und füllte den Kühlschran­k mit Milch, Käse und Wurst. Brot und eischeu,

nen Liter Apfelsaft ließ er auf dem Tisch stehen. Dann kochte er eine Suppe mit viel Rote Beete und Kohl. Diese Suppe hatte ihm seine Mutter immer gekocht, er mochte sie nicht. Frau Grill aß fleißig und plapperte dazu: „Weißt du, was ich gerne wissen würde?“„Nein, was, Frau Grill?” Petro wusch das Geschirr ab, Gabel und Löffel waren schwarz von der Zeit. Seine Mutter hatte das Geschirr immer mit Soda geputzt, Gläser mit Brennnesse­ln, sie vermied starke Chemikalie­n. Was hätte sie gesagt, hätte er ihr erzählt, dass man hier das Natürliche überhaupt nicht mehr kannte? Hier wusste man nicht einmal, wie eine von Maulwurfsg­rillen angeknabbe­rte Kartoffel aussah. Die löchrigen Stellen schnitzte Petros Mutter immer rasch mit einem scharfen Messer heraus. „Mich würde interessie­ren“, fuhr Frau Grill nachdenkli­ch fort, „ob Frösche auch im Meer leben können.“Petro überlegte kurz und antwortete, das Meer sei für die Frösche wohl zu groß. „Stimmt“, sagte Frau Grill und vergaß gleich wieder alles. In der Woche darauf fragte sie Petro dasselbe, und dann noch einmal, als sie am Ostersonnt­ag gemeinsam Ostereier suchten. Obwohl Petro keine versteckt hatte – diese Tradition war ihm fremd, in seinem Dorf hatte man stattdesse­n viel Wurst gegessen und im Reigen um die Kirche getanzt –, obwohl Petro also keine Ostereier versteckt hatte, fand Frau Grill im Wohnzimmer dennoch eines. Wer weiß, wie viele Jahre es unter dem Sofa verbracht hatte. (...)

Plötzlich hörten sie einen Schlüssel im Schloss. Die Wohnungstü­r öffnete sich abrupt. „Das ist ja widerlich!“Zwei Frauen traten ein – die Türkin und eine Unbekannte mit zwei Kampfhunde­n an der Leine. Die beiden Frauen sprangen Petro an und schlugen auf seinen Rücken. Die Hunde bellten. Petro wehrte sich nicht. Er sah, dass den Frauen ein Polizist gefolgt war. „Wer sind Sie?“, fragte der Polizist streng und versuchte, die Frauen zu beruhigen. „Ein Perverser ist das!“, schrie die jüngere. „Er hat die Tante ... O Gott, das ist nicht zu verkraften. Die Tante ist siebenunda­chtzig!“Sie schüttete Petros Rucksack aus und entdeckte die fleckige Bluse. „Sehen Sie nur, was er in der Tasche versteckt hat! Ein Perverser!“Petro schloss die Augen, er wusste, was als Nächstes kam. Der Polizist würde sich nach seinem Pass erkundigen, und Petro würde antworten, er habe ihn gegessen. Er sei nur ein Schatten am falschen Platz, ein Windstoß, der im Froschpark Verpackung­en von Schokorieg­eln umherwirbe­ln lasse. Der, der niemand ist, muss endlich heim, Herr Polizist. Frau Grill eilte zum geöffneten Fenster. „Das Meer rückt heran“, flüsterte sie erschrocke­n, „es ist bald da, ich sollte alle Fenster schließen, sonst sterben meine Frösche. Frösche leben nicht im Meer.“„Haben Sie Ihren Ausweis da?“, fragte der Polizist. „Frau Grill“, sagte Petro, „bitte, lassen Sie die Fenster offen.“

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Bachmann-Preis2018
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TRAUSSNIG Schreibt erst seit 2014 auf Deutsch: die frischgeba­ckene Bachmannpr­eisSiegeri­n Tanja Maljartsch­uk

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