Die Angst vor dem nächsten Gaza-Krieg: Am Wochenende eskalierte die Lage an der Grenze im Südwesten Israels.
Am Wochenende eskalierte die Lage an der Grenze im Südwesten von Israel bedrohlich.
Dass Islamisten seit drei Monaten jeden Tag zig Brandsätze über die Grenze schicken, um Felder und Wälder rund um ihren Heimatort abzufackeln, gehört für Yael Raz Lachiani „inzwischen zum Alltag. Man könnte fast sagen, ich habe mich an diese perverse Realität gewöhnt“, sagt die 41-jährige Israelin aus dem Kibbuz Nahal Os, der nur 800 Meter vom Gazastreifen entfernt ist. Doch selbst für die hartgesottene Mutter dreier Kinder war die Eskalation der vergangenen 48 Stunden unerträglich: „Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir tagsüber in den Bunker laufen mussten, weil Alarm vor Raketen- oder Mörserbeschuss gegeben wurde“, sagt Lachiani. „Ich will daran glauben, dass ein Waffenstillstand in Kraft tritt, und kann nur hoffen, dass ich nicht zu optimistisch bin.“
So wie Lachiani fürchten Zehntausende Israelis und Hunderttausende Palästinenser rund um Gaza, dass dem Land ein neuer Krieg ins Haus stehen könnte. Der Schlagabtausch zwischen Israel und der Hamas unterbrach eine vier Jahre andauernde, gespannte Stille. Seit Freitag schossen Islamisten mehr als 200 Geschosse auf israelische Ortschaften ab. Die meisten gingen auf Feldern nieder, mehr als 30 wurden von der Raketenabwehr abgefangen. Drei Zivi- listen wurden verletzt, als ein Geschoss in einer Kleinstadt neben einer Synagoge explodierte. So viele Geschosse haben die Islamisten seit 2014 nicht abgeschossen. Die
Luftwaffe reagierte mit den schwersten Bombardements seit
Jahren. Mehr als 40 Ziele in
Gaza wurden angegriffen, darunter erstmals seit Langem große Gebäude der Ha- mas, im Gegensatz zu bisherigen nächtlichen Einsätzen auch am helllichten Tag. Dabei kamen mindestens zwei junge Palästinenser ums Leben. Nun verkündete die Hamas, dass man mithilfe ägyptischer Unterhändler einen Waffenstillstand ausgehandelt habe. Dennoch erinnern die Ereignisse an die Krisenzeit, die vor vier Jahren im blutigen Konflikt mündete. Dieses Wochenende hat die Hamas noch mehr Raketen abgefeuert als damals. Wird Israel unweigerlich wieder in einen Krieg ziehen? Zumindest ein Teil des Kabinetts und der Bevölkerung scheint das zu befürworten. Bildungsminister Naftali Bennett, Vorsitzender der Hardliner-Partei „Jüdisches Heim“, verurteilte das „Stillhalten“und rief Premier Benjamin Netanjahu dazu auf, das Angebot abzulehnen: Nachdem sie 200 Raketen auf Zivilisten abgefeuert habe, „diktiert die Hamas nun eine Waffenruhe zu einem Zeitpunkt, der ihr genehm ist. Es sollte klar sein: Eine Feuerpause, ohne dass die Hamas ihren Brandstiftungsterror einstellt, stellt unsere Abschreckung nicht wieder her, sondern ist Kapitulation.“
Und dennoch glauben Experten, dass Netanjahu keinen Marschbefehl erteilen wird. „Das hat mehrere Gründe“, sagt Politwissenschaftler Dan Schüftan, Leiter des Zentrums für Strategische Studien in Haifa. Israel wolle es erst zum Krieg kommen lassen, wenn die Ausgangsbedingungen dazu ideal seien. Dazu gehöre die Fertigstellung des eine Milliarde Euro teuren Bollwerks, das die Armee rund um Gaza errichtet. Die bis zu 40 Meter tiefe, mit Hightech-Sensoren ausgestattete Betonmauer soll verhindern, dass die Hamas
wie im vorigen Krieg unbemerkt Angriffstunnel gräbt, um Zivilisten oder Soldaten aus dem Hinterhalt zu überraschen, zu töten oder als Geiseln zu verschleppen. Die Mauer soll 2019 fertig sein.
Laut Schüftan gibt es zwei weitaus gewichtigere Gründe: Für Israel sei Gaza „ein Ärgernis, aber keine wirkliche Bedrohung“. In Syrien indes braue sich ein existenzielles Problem zusammen: „der Versuch des Iran, einen militärischen Vorposten zu errichten.“Und: Israel hat in einem Waffengang nicht viel zu gewinnen, sagt Schüftan. Seit 2006 führte es drei Mal Krieg, ohne dass dies einen strategischen Wandel herbeigeführt hätte. Denn Gaza scheint immer unbeherrschbarer. Dort eskaliert die humanitäre Krise fortwährend. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos, ein noch größerer Anteil ist zum Überleben auf internationale Hilfe angewiesen. Rund 97 Prozent des Trinkwassers ist für den Verzehr nicht mehr geeignet, weil es zu schmutzig oder versalzen ist. Hoffnung auf Besserung gibt es kaum: „Das Problem wird so lange unlösbar sein, solange die herrschende Hamas an ihrer radikalen Ideologie festhält, die die Vernichtung Israels zum Ziel hat“, sagt Schüftan.