All die Toten, sie leben und schweben hoch
Ein geniales, durchtriebenes Wunderwerk: „Lincoln im Bardo“von George Saunders.
Es ist ein vielstimmiger und gespenstischer, in seiner Masse kaum noch überschaubarer Chor, der seine Stimmen erhebt. Was alle Beteiligten eint: Dass sie sich im Bardo befinden, jenem buddhistischen Zwischenreich zwischen Dieseits und Jenseits, das eine zentrale Rolle im „Tibetanischen Totenbuch“einnimmt und den Weg ins Nirwana öffnen könnte. Doch zuvor irren die Seelen herum, mehrheitlich in der trügerischen Hoffnung, doch wieder zu erwachen. So ruhen sie im grandiosen Roman „Lincoln im Bardo“auch nicht in Särgen, sondern in „Kranken-Kisten“.
Und ihre Ruhestätte nennt sich nicht Friedhof, sondern „Kranken-Hügel“. Junge Prostituierte, Betrüger, Selbstmörder, Sklaven, im Bürgerkrieg Gefallene sind es, die sich zu Wort melden, ordinär, boshaft, traurig, optimistisch, ehe sie staunen über einen prominenten Besucher. Der weilt eindeutig noch unter den Lebenden, beweint aber in einer Familiengruft den Tod seines elfjährigen Sohnes Willie. Mehrmals schließt er ihn in die Arme. Es ist der amtierende US-Präsident Abraham Lincoln, der 1862, mitten im Bürgerkrieg, eine Nacht an der Grabesstätte verbrachte.
Nach mehreren exzellenten Erzählbänden legte George Saunders, der als Meister der Realitätsverschiebungen in den USA in einer eigenen Liga schreibt, seinen ersten Roman vor. Er hebt auch darin konventionelle Erzählstile mühelos aus den Angeln. Nie meldet er sich in dem Totentanz selbst zu Wort, er eignete sich die Patentrechte für ein faszinierendes poetisches Kaleidoskop an. Mehr als 60 Figuren sind darin zu erkennen, oft geben sie nur zwei Sätze von sich.
Ein dämonischer, fast endloser Wortreigen, ein Panoptikum aus einem uns unbekannten Reich, fernab jeglicher Spukgeschichten, nahe aber an schwarzem Humor, an doppelbödiger Ironie und nicht zuletzt an großer Lebensbejahung mit einer wichtigen Lektion: „Denn bis zu unserem Ende lässt sich ,niemals‘ nicht wahrhaftig sagen.“Ein höchst bedeutsames Werk. Ab also in die Lese-Kiste. George Saunders. Lincoln im Bardo. Luchterhand, 448 Seiten, 25,70 Euro.
Es ist das ewige MärchenDilemma: Der Mensch schaut in den Spiegel und fragt sich: Wer ist schöner, schneller, stärker? Sss, das erinnert ein bisschen an das Züngeln einer Schlange, aber die hätte im Gegensatz zum Menschen den Braten längst gerochen: Der ewige Wahnsinn von Expansion und Expression – kann das gut gehen? Autor Florian Werner meint: Nein, man halte sich besser an die Tierwelt, dort kann man in Sachen philosophischer Lebensführung noch so einiges lernen.
Da wäre etwa der Axolotl, der mexikanische Schwanzlurch, der auf ewig in seiner Metamorphose verharrt und nie das fina- le Ende erreicht. Ach, was könnte er für eine prachtvolle Amphibie werden. Aber er will nicht. Er wackelt mit seinen Bürsteln links und rechts und bleibt ein Axolotl. Philosophisch gesehen ist das sehr weise. Er verweigert sich nämlich der Illusion einer „zweiten Welt“, wie sie der Philosoph Robert Pfaller entworfen hat. Eine Art Parallelwelt, in der wir mit unseren Tagträumen leben und der Alltagswelt, der „ersten Welt“, entfliehen. Bis dahin ist alles gut, doch wehe, wir versuchen, diese Utopien zu verwirklichen! So sollten wir wissen: Die Realität ersetzt die schöne Illusion. Und wie der Axolotl weiß, ist die Illusion immer schöner als die Realität. Im Gegensatz zum Menschen hat der