Kleine Zeitung Kaernten

„Europa muss zur Besinnung kommen“

Europa habe sich nach der syrischen Flüchtling­skrise wie ein Markgraf gegenüber der Türkei benommen. „Die EU war wie der Wächter der Grenze zum ,Schlachtfe­ld‘“, sagt die türkische Schriftste­llerin Ece Temelkuran.

- INTERVIEW. Von Manuela Swoboda UMUT ELESTEKIN

Frau Temelkuran, Sie sind Türkin, leben aber seit 2016 in Kroatien. Warum gingen Sie ins Exil?

ECE TEMELKURAN: Nun, das bin ich gar nicht. Anscheinen­d findet die westliche Welt das Wort Exil sexy, trotz des Fakts, dass Exil ein Klischee ist und ein Konzept der Vergangenh­eit. Ist nicht jeder kritische Geist im Exil? Die richtigere Frage ist, warum ich derzeit nicht in meinem Heimatland lebe. Der Grund ist, dass ich auf Reisen bin, um zu schreiben, denn ich denke, dass Schreiben auch immer ein gewisses Nomadentum braucht. Ich lehne es ab, als Exilantin bezeichnet zu werden. Es ist ein zu emotionale­s und politisch überfracht­etes Wort, das ich nicht schultern möchte.

Warum gingen Sie nach Kroatien? Nach Zagreb?

Am Rand Europas zu leben, an der Peripherie, ermöglicht es mir, beide Seiten zu sehen: den Osten und den Westen. Und ich mag Zagreb. Die Stadt hat eine eigene Eleganz und ZurückhalD­as tung. Außerdem ist Kroatien für Türken nicht so politisch aufgeladen wie etwa Deutschlan­d.

Fühlen Sie sich in Zagreb mehr als EU-Bürgerin?

Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob es ein solides Konzept ist, ein EU-Bürger zu sein. Am Ende des Tages leben wir in einer Welt, in der es Nationalst­aaten mit speziellen Dokumenten gibt, die dich mit einem Land verbinden. Solange ich einen türkischen Pass habe, macht es keinen Unterschie­d, wenn ich Bücher oder Artikel schreibe wie die europäisch­en Intellektu­ellen.

Denn?

Wenn ich am Flughafen ankomme, muss ich zum Schalter: „Alle Nationen“. Meine Situation, und ja, man wird zu einer Situation, wenn man nicht in seinem Heimatland lebt, wechselt ständig. Wenn ich in Oxford über Politik spreche, oder in Berlin über meine Romane, bin ich Weltbürger­in. Aber darüber hinaus gibt es überall Pass-Lini- en, die dich daran erinnern, wo du offiziell dazugehörs­t.

Macht es die EU Türkinnen wie Ihnen schwer, sich als Europäerin­nen zu fühlen?

Wenn die Türkei näher an die EU rücken würde, wäre mindestens die Hälfte des Landes ermutigt, an eine bessere Demokratie zu glauben. Es gab einen kritischen Wendepunkt in der jüngsten Vergangenh­eit, der die Türkei davor hätte bewahren können, in einen autoritäre­n Staat abzurutsch­en. Ich fürchte, diese Chance ist verloren. Ich hoffe aber, dass sich die progressiv­en Kräfte in Europa mit den türkischen Progressiv­en treffen, was das Schicksal der Türkei ändern könnte.

Die Türkei ist die Außengrenz­e der EU: Führen die EU und die Türkei eine gute Partnersch­aft?

Natürlich nicht. Europa hat sich nach der syrischen Flüchtling­skrise wie ein Markgraf gegenüber der Türkei benommen. Die EU war wie der Wächter der Grenze zum „Schlachtfe­ld“. ist nicht nur heuchleris­ch, es ruiniert auch die EU in Bezug auf die politische Moral. Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, dass moralische­s Versagen keine politische­n Konsequenz­en hat. Vielleicht erleben wir die heute schon. Europas Heuchelei werden Russland, die Türkei und andere Länder ausnützen, um zum passenden Zeitpunkt die Massen gegen Europa mit all seinen Idealen zu mobilisier­en.

Der türkische Präsident Erdog˘ an hat viele Fans, auch in Österreich. Viele Türken, die hier leben, stimmten für ihn. Warum?

Es gibt eine kurze und eine lange Antwort darauf. Bei der langen Version müssen wir zurück zu Spinoza und der „traurigen Leidenscha­ft“der Menschen. Die ernsthafte Frage, weshalb Menschen um die Knechtscha­ft kämpfen, als ginge es um ihre

hat historisch­e Ursachen und kann nicht wirklich erklärt werden. Die kurze Version der Antwort ist, dass die Türken keine wirklichen Optionen hatten, die zugkräftig wie Erdog˘an gewesen wären. Und die Betonung liegt hier bei Zugkraft, nicht auf Möglichkei­t.

Hat die EU keine Antworten für türkische Migranten?

Die EU hat Antworten für Immigrante­n oder Flüchtling­e, wenn sie reich sind. Das Problem ist, dass die EU keine Antworten für die Armen findet. Das ist Teil der großen Heuchelei.

Ist Europa zu seinem eigenen Exil geworden?

Vielleicht ist es an der Zeit, um zu erwähnen, dass ich als „Botschafte­rin eines Neuen Europa“ausgezeich­net wurde, von einer polnischen Hilfsorgan­isation. Es ist ein schicker Titel, aber er verschafft mir auch die Chance, dass ich sagen kann, dass Europa zur Besinnung kommen muss. Es muss sich schnell erinnern, dass es politische und moralische Ziele hat. Ich meine damit die Ideale von Europa, bevor es eine Firma wurde, die von neoliberal­en Werten geleitet wird. Es geht nicht nur ums Erhalten der Einheit. Europa ist mehr als nur Europa, und wenn es kollabiert, gibt es keinen Leuchtturm mehr für Menschen außerhalb des Kontinents.

In Ihrem Buch „Euphorie und Wehmut“schreiben Sie über die Zerrissenh­eit der türkischen Identität. Wie gehen Sie selbst damit um?

Nachdem ich mich jahrelang mit der Frage beschäftig­t habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich eine einzige IdenRettun­g,

tität habe. Mein Name ist Ece. Das ist es. Als Individuum mit einer Geschichte und einer Vorstellun­g vom Ich, die reicher ist als jede andere Identität. Jeder von uns sollte es ablehnen, auf irgendeine Identität reduziert zu werden. Wir alle sollten uns das Recht nehmen, als Individuum zu leben, das imstande ist, seine eigene Geschichte zu erzählen oder zu entwerfen. Das ist auch ein Ansatz, der uns dabei helfen kann, ein größeres Netzwerk der Solidaritä­t zu weben. Denn offensicht­lich hat uns diese individual­istische Politik nicht dabei geholfen, Solidaritä­t zu entwickeln, anderersei­ts hat sie wichtige Solidaritä­tsnetzwerk­e zerstückel­t.

Der Europäer hat sein Heimatland, aber auch er sucht seine Identität in Zeiten von Mobilität, Flexibilit­ät, Migration. Die Mig- ranten haben ihre Heimat verloren, sind Nomaden. Beide vermissen etwas Wichtiges: Sie haben ihre geschützte­n Räume verloren. Ist das der Grund, warum Europa immer mehr Grenzen zieht?

Genau so ist es. Das ist auch der Grund, warum ich es nicht mag, als „Autorin im Exil“bezeichnet zu werden. Jeder kritisch denkende Mensch wird auf die eine oder andere Art zum Exilanten, wenn der Rechtspopu­lismus Fahrt aufnimmt. Kürzlich war ich mit meinem Buch „Stumme Schwäne“auf Lesetourne­e in den USA: In Portland fragte mich eine Frau, ob ich fürchte, in Gefahr zu sein. Als Antwort fragte ich zurück: „Und Sie? Fühlen Sie sich bedroht?“Wann immer ich über meine Situation in westlichen Ländern befragt werde, fühle ich mich gezwungen, sie selbst an ihre eigene „Situation“zu erinnern. Und oft ist deren Situation nicht so viel anders als meine, auch wenn sie das nicht glauben wollen.

Setzen Menschen Grenzen, damit sie wissen, wer sie nicht sind?

Das bringt es auf den Punkt. Sich selbst Grenzen zu setzen, gibt Sicherheit. Und die Mittelmäßi­gen geben der Sicherheit gegenüber dem bunten, schönen Leben den Vorzug. Ich schätze, das ist meine Antwort.

Der österreich­ische Philosoph Ludwig Wittgenste­in sagte: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“Hatte er recht?

Ich wäre eine Närrin, würde ich ihm widersprec­hen. Ich möchte aber noch hinzufügen, dass meine Sprache meine Heimat ist. Und Heimat ist manchmal ein größeres Konzept als die Welt.

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 ??  ?? Geboren 1973 in Izmir (Türkei), ist Juristin, Schriftste­llerin und Journalist­in. Aufgrund ihrer opposition­ellen Haltung und Kritik an der Regierung verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitu­ngen. Ihr Roman „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“wurde in 22 Sprachen übersetzt.
Geboren 1973 in Izmir (Türkei), ist Juristin, Schriftste­llerin und Journalist­in. Aufgrund ihrer opposition­ellen Haltung und Kritik an der Regierung verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitu­ngen. Ihr Roman „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“wurde in 22 Sprachen übersetzt.

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