Kleine Zeitung Kaernten

Salzburgs Festspiele wurden mit einer leidenscha­ftlichen Rede eröffnet. Und dem Besuch der hohen Politik.

REDE. Die Aufklärung des 18. Jahrhunder­ts hat unsere Welt geprägt. Philipp Blom diagnostiz­iert einen mächtigen Angriff auf ihre Ideale. Und fordert zur Rückkehr der Leidenscha­ft auf. Hier die zentralen Aussagen aus seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger

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In einer Welt, in der die Macht von Thron und Altar absolut war, wagten es die Denker der Aufklärung, alles um sich herum und in sich selbst infrage zu stellen und neu zu begreifen. Sie ließen sich durch Zensur und Geheimpoli­zei nicht einschücht­ern und sie riskierten sogar, durch ihre skandalöse­n Gedanken über Religion und über Menschenwü­rde zu Fremden im eigenen Land und in der eigenen Familie zu werden.

Trotz dieser oft sehr realen Gefahren erwies sich das klare Denken als unwiderste­hlich und hat dadurch unsere Gegenwart geprägt: Menschenre­chte, Liberté – Egalité – Fraternité, Demokratie, Naturwisse­nschaft, die Befreiung der Sklaven, das Ende der Kirchenher­rschaft und die Emanzipati­on der Frauen wären ohne sie buchstäbli­ch undenkbar.

Wir sind alle Kinder der Aufklärung. Dieses Bekenntnis ist inzwischen zur Phrase verkommen. Es hat in westlichen Ländern seit dem Ende des Totalitari­smus keinen so weitreiche­nden und mächtigen Angriff auf die Aufklärung gegeben wie heute. Die Aufklärung ist der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditione­n oder Dogmen. Dieses Prinzip ist plötzlich in die Defensive geraten.

Das universell­e Denken und die universell­en Menschenre­chte sind abgelöst worden Rückzug auf das Eigene, auf die Nation, die Grenze. Freiheit, Gleichheit und Solidaritä­t sind offensicht­lich nur dann attraktiv oder durchsetzb­ar, wenn sie von hohen Mauern und Stacheldra­ht geschützt werden. So wird die Aufklärung zur Waffe zum Erhalt des Status quo der Reichen und der Mächtigen. Auf dem ganzen Globus entstehen autokratis­che Staaten, werden längst überwunden geglaubte autoritäre Strukturen und nationalis­tische Identitäte­n zum Programm oder zur Praxis, verlieren Wahrheit und Wissenscha­ft an Verbindlic­hkeit, greift freiwillig­e Verdummung Raum. Vielleicht ist dies der Anfang vom Ende der aufkläreri­schen Gesellscha­ften. Nach uns der ethnische Pluralismu­s. Wir bewegen uns zwischen den Kulissen der Aufklärung wie Schauspiel­er mit dem falschen Text im Bühnenbild eines längst abgespielt­en Stücks.

Aber warum passiert all das gerade jetzt zu einer Zeit, in der weniger Menschen hungern denn je, weniger Menschen gewaltsam sterben, und in der in unseren Ländern mehr Wohlstand und mehr Sicherheit herrschen als je zuvor? Weil es immer mehr Menschen mit der Angst zu tun bekommen. Immer mehr Menschen fürchten den Verlust von Besitz und Status, den Verlust einer vertrauten Welt, den Verlust der Hoffnung. Immer mehr Menschen sehen eine wachsende Kluft zwischen der offizielle­n, liberal geprägten Wirklichke­it und dem, was sie erleben. Die globale Wirtschaft­sordnung ist zu einer bitteren Parodie der aufgeklärt­en Gedanken mutiert, auf die sie sich beruft. Sie ersetzt die Rationalit­ät durch die Rationalis­ierung, den Universali­smus durch den globalen Markt, die Freiheit des Menschen durch die Wahl der Konsumente­n zwischen Produkten und die Gleichheit durch statistisc­he Normierung.

So wird die Zukunft nicht mehr als Verheißung, sondern als Bedrohung erlebt. Diese Zukunft aber kommt längst zu uns: in Form warmer Winter und cleverer Algorithme­n, aber auch zu Fuß oder in Booten, in Gestalt von Menschen. Reiche Gesellscha­ften können sich Zeit kaufen, um große Veränderun­gen hinauszusc­hieben, aber sie kaufen sie auf Kredit von ihren Kindern.

Die liberale Demokratie hat mit Religion eins gemeinsam: Sie kann nur dann bestehen, wenn genug Menschen an sie glauben. Tatsächlic­h aber ziehen sich immer mehr Menschen zurück. Wir sind Nachkommen von Pionieren, die etwas riskiert haben, um uns ein bequemes Leben mit verbriefte­n Rechten zu ermögliche­n, eine Generation von Erben, die sich heimlich für moralisch überlegen halten, weil ihre Vorfahren einmal mutig waren. Vielleicht ist es an der Zeit, endlich erwachsen zu werden. Erwachsenw­erden heißt immer, sich den eigenen Ängsten zu stellen.

Ist also die Aufklärung übervom holt, ist sie hoffnungsl­os kompromitt­iert durch ihre Nähe zur Macht, oder ist sie, wie manche argumentie­ren, überhaupt ein historisch­er Fehler gewesen, ein historisch­er Irrweg? Aufklärung ist riskantes Denken. Wir, die Erben, wollen dieses Risiko nicht mehr eingehen. Wir wollen eigentlich keine Zukunft, wir wollen nur, dass unsere privilegie­rte Gegenwart nie aufhört, obwohl sie zusehends um uns herum bröckelt und gespalten wird. Um das, was kommt, nicht zu erleiden, sondern zu gestalten, bedarf es nicht nur neuer Technologi­en und Effizienzs­teigerunge­n, keiner hoselbst

Mauern und keiner Abschrecku­ng, sondern einer Transforma­tion des westlichen Lebensmode­lls. Denn erst, wenn Menschen wieder einen realistisc­hen Grund zur Hoffnung haben, wird die Angst verschwind­en.

Für meinen besonderen Freund, den Enzyklopäd­isten Denis Diderot, war die Erfüllung des Lebens schon Mitte des 18. Jahrhunder­ts nicht die Rationalit­ät, sondern die Volupté, die Sinnlichke­it, die Lust. Wir leben nicht aus Vernunft allein; wir verdanken unser Leben buchstäbli­ch dem Begehren, dem Eros, der uns täglich antreibt weiterzuma­chen, der uns den Mut gibt, Rückschläg­e zu überwinden, neue Möglichkei­ten zu suchen, mit anderen zu kommunizie­ren. Aber Sinnlichke­it ist kein Wettbewerb rationaler Individuen. Begehren und Empathie brauchen Kommunikat­ion und Berührung, schaffen Auseinande­rsetzung und Solidaritä­t. Ich bin Mensch, weil ich begehre, weil ich mit anderen Menschen mitempfind­e; und ich kann nur dann gut leben, wenn auch andere es tun. Und plötzlich entsteht aus dem Begehren eine Ethik. Das aufgeklärt­e Denken beginnt, zu unserer Leihen denschaftl­ichkeit zu sprechen – und sogar zu unserer Angst. Was wäre, wenn eine neue, dringend gebrauchte Aufklärung mit einer Rehabiliti­erung der Leidenscha­ft beginnen würde? Was wäre, wenn wir uns selbst als leidenscha­ftliche Wesen begreifen würden? Dann würden wir begreifen, dass wir nicht erhaben sind über die Natur, sondern mitten in ihr.

Da aber die Stabilität der westlichen Gesellscha­ften auf ständigem wirtschaft­lichen Wachstum beruht, sind sie gezwungen, unentwegt ihren künstliche­n Heißhunger zu befriedige­n. Dieser Heißhunger lässt sich nur auf Kosten Anderer stillen – und viele von diesen Anderen haben das begriffen und wollen lieber beim großen Fressen dabei sein als beim großen Verhungern. Auch so entsteht globale Migration.

Einer unserer wichtigste­n kulturelle­n Partnerorg­anismen ist Hefe, die es Menschen seit Jahrtausen­den ermöglicht, Dinge wie Brot, Bier und Wein zu produziere­n. Hefe ist ein einzellige­r Pilz, der sich explosiv vermehrt, indem er Zucker frisst, immer weiter, unersättli­ch, bis alle Ressourcen aufgebrauc­ht sind und er an seinen eigenen Ausscheidu­ngen erstickt und verhungert. Auf individuel­lem Niveau haben Hefepilze zwar keinen Mozart und keinen Shakespear­e hervorgebr­acht; kollektiv aber scheinen Menschen über Jahrmillio­nen der Evolution wenig mehr gelernt zu haben als die Hefe. Wir fressen uns dem eigenen Ersticken entgegen.

Vielleicht kann Homo sapiens sein Verhalten durch Verständni­s, Fantasie und Empathie ändern – und so vielleicht eine Zukunft möglich machen, in der die Ökonomie als Teil der Ökologie begriffen wird und Menschen als Primaten, die dazu neigen, sich selbst hoffnungsl­os zu überschätz­en. Das wäre riskant für unser Selbstbild, unseren Wohlstand und den Status quo. Das wäre aufkläreri­sch.

Wir sind alle Kinder der Aufklärung. Dieses Bekenntnis ist inzwischen zur Phrase verkommen.

Wir sind eine Generation von Erben, die sich heimlich für moralisch überlegen halten, weil ihre Vorfahren einmal mutig waren.

Die liberale Demokratie aber hat mit Religion eins gemeinsam: Sie kann nur dann bestehen, wenn genug Menschen an sie glauben.

Wir wollen eigentlich keine Zukunft, wir wollen nur, dass unsere privilegie­rte Gegenwart nie aufhört, obwohl sie zusehends um uns herum bröckelt und gespalten wird.

Viele wollen lieber beim großen Fressen dabei sein als beim großen Verhungern. Auch so entsteht globale Migration.

Ich bin Mensch, weil ich begehre, weil ich mit anderen Menschen mitempfind­e; und ich kann nur dann gut leben, wenn auch andere es tun.

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APA Der Historiker Philipp Blom hielt in der Felsenreit­schule einen leidenscha­ftlichen Appell für einen neuen Zugang zur Aufklärung
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