Abschied von der Sozialpartnerschaft?
ESSAY. Die Absage an die Sozialpartnerschaft durch die neue Regierung halte ich für unklug. Die Geschichte hat uns schmerzhaft gelehrt, wie wichtig Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft für die Demokratie sind.
Das Gedenkjahr 2018 ist jenes Jahr, in dem die Republik Österreich ihren 100. Geburtstag feiert. Von diesen 100 Jahren sind 20 Jahre auf die Erste Republik (1918–1938) entfallen, sieben auf die Diktatur von Adolf Hitler, der auch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu verantworten hat, und 73 Jahre auf die Zweite Republik (1945–heute).
Es ist meine feste Überzeugung, dass der Unterschied zwischen der Ersten Republik und der Zweiten Republik auch darauf zurückzuführen ist, dass die Österreicher, als wir nach 1945 eine zweite Chance bekamen, aus der Geschichte gelernt haben und diese Chance nutzten. Einer derer, die aus der Geschichte besonders viel gelernt haben, war Karl Popper, der nach dem Zweiten Weltkrieg, den er in der Emigration verbracht hat, ein Plädoyer für Pluralismus und Toleranz formulierte, das sinngemäß lautet: „Ich kann recht haben und du kannst irren, du kannst recht haben und ich kann irren, aber gemeinsam werden wir der Wahrheit näher kommen.“
In meinen Augen war das auch ein Motto für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nach 1945 und für die Sozialpartnerschaft. Beiden hat Österreich viel zu verdanken.
Natürlich gibt es verschiedene Varianten zur Bildung einer Bundesregierung auf Basis eines Wahlergebnisses und eine Koalition der beiden größten Parteien ist nicht die einzige Reaus gierungsform, um ein Land fair und vernünftig zu regieren. Das haben die Regierungen von Josef Klaus und Bruno Kreisky bewiesen. Sie taten es, indem sie als „Ausgleich“zu einer Rechtsoder Linksregierung die Sozialpartnerschaft besonders pflegten und bei wichtigen Projekten zu ausgiebigen Verhandlungen bereit waren. Schließlich war die Sozialpartnerschaft die vernünftige Antwort auf die Tatsache, dass sich in der Ersten Republik nicht nur Heimwehren und Schutzbund, nicht nur Sozialdemokraten und Christlichsoziale, sondern auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in schärfster Form bekämpft haben.
Diese Auseinandersetzungen haben sich als Gift und Sprengstoff für die Demokratie erwiesen. Es war daher der gesunde Menschenverstand, der die führenden Persönlichkeiten am Beginn der Zweiten Republik und die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer veranlasste, die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Interessengegensätze am Verhandlungstisch zu suchen und das zur politischen Praxis zu machen. Damit war der Grundgedanke der Sozialpartnerschaft geboren.
Wer glaubt, dass dieser Gedanke von Anfang an nur helle Begeisterung ausgelöst hat, der irrt. Viele waren unzufrieden. Es war jedoch die Fähigkeit, in größeren Zusammenhängen zu denken, die Persönlichkeiten wie Raab und Böhm, Sallinger und Benya bis zu der in jüngster Zeit abgetretenen Generation von Sozialpartnerrepräsentanten veranlasste, immer wieder nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Noch vor Kurzem hat Christoph Leitl, der frühere Präsident der Bundeswirtschaftskammer, über die Sozialpartner geschrieben: „Sie haben viele Jahrzehnte hindurch den sozialen Frieden gesichert und den Wirtschaftsstandort Österreich vorangebracht. Dank der Sozialpartner als Garant für den sozialen Frieden können wir, anders als Frankreich oder Belgien, die Dauer von Streiks, die hohe volkswirtschaftliche Kosten verursachen, in Minuten zählen. Darüber hinaus führt der konsensorientierte Weg auch zu einem hohen Ausmaß an politischer Stabilität.“
Soll das mit dem jüngsten Regierungswechsel wirklich über Bord geworfen werden? Haben die Lehren aus der Geschichte ein Ablaufdatum? Ist gemeinsam mit den ÖVP-Mitgliedern der vorigen Bundesregierung auch die katholische Soziallehre entsorgt worden?
Jede Regierung verfügt über Macht. Von ihr nur behutsam Gebrauch zu machen, ist sicher nicht leicht. Wer Macht hat, will noch mehr Macht und will seinen Machtanspruch, seine Ziele so rasch und uneingeschränkt wie möglich durchsetzen. Macht ist nicht von vornherein etwas Schlechtes, wenn es auch Gegenmacht, Recht und verantwortungsbewusste Einhaltung der geschriebenen und ungeschriebenen Spielregeln gibt.
Das zu beachten ist für eine Regierung, vor allem für eine neue Regierung, die überzeugt ist, alles besser zu können, nicht einfach. Auch Vorgängerregierungen haben hier Fehler gemacht. So ist das gesetzlich verankerte Begutachtungsrecht von Interessensvertretungen und anderen Institutionen auch in früheren Jahren gelegentlich umgangen worden, indem die Regierung sich Abgeordnete suchte, die bereit waren, einen
in der Regierung ausgearbeiteten Gesetzestext als „ihren Initiativantrag“einzubringen. Das ist leider nicht neu. Und es sind auch andere „parlamentarische Unsportlichkeiten“immer wieder vorgekommen – insbesondere in Wahlkampfzeiten.
Aber dass ein wichtiges Gesetz, von dem Hunderttausende betroffen sind, ohne Begutachtung ins Parlament gebracht wird, dass diese Gesetzesnovelle nicht – einer ständigen parlamentarischen Usance folgend – jenem Ausschuss zugewiesen wird, in dem das Stammgesetz behandelt wurde, sondern dass man die Novelle zu einem im Sozialausschuss verabschiedeten Arbeitszeitgesetz aus durchsichtigem Interesse dem Wirtschaftsausschuss zuweist; dass in der 2. Lesung also nach der Ausschussberatung nicht nur sich aus der Debatte ergebende Abänderungsanträge gestellt werden, sondern eine Kostenbremse in der Sozialversicherung ohne vorhergehende Ausschussberatung in die No- zum Arbeitszeitgesetz hineingepackt wird und als Überdrüber im letzten Augenblick das im Antrag enthaltene und vom Ausschluss beschlossene Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes vorverlegt wird und damit die Frist für eine ordnungsgemäße Vorbereitung auf die geänderte Rechtslage verkürzt wird, das ist in Summe neu und leider mehr als nur schlechter parlamentarischer Stil. Das ist eine demonstrative Absage an den Grundgedanken der Sozialpartnerschaft und an eine faire und sachgerechte parlamentarische Behandlung.
Hat man davor und vor der Öffentlichkeit wirklich Angst? Ich glaube mich zu erinnern, dass das Stammgesetz – das Arbeitszeitgesetz aus 1969 – während der ÖVP-Alleinregierung fair und gründlich verhandelt wurde und auch die Zustimmung der in Opposition befindlichen Sozialdemokraten fand. Und ich erinnere mich auch, dass das heiß umstrittene Arbeitsverfassungsgesetz in der Regierungszeit von Bruno Kreisky trotz absoluter Mehrheit der SPÖ so lange verhandelt wurde, bis es auch die Zustimmung der ÖVP gefunden hat. Ich halte das demonstrative Abgehen von einer bewährten Vorgangsweise für unklug, denn das Vertrauen, das auf diese Weise zerstört wird, könnte in Zukunft schmerzlich fehlen.
Es war ebenfalls Christoph Leitl, der in dem zitierten Text mit Stolz geschrieben hat: „Als Begutachter nehmen die Sozialpartner eine zentrale Rolle im Gesetzgebungsprozess ein.“
Jetzt heißt es: „Brauchen wir nicht.“Mag schon sein, dass es aus bestimmter Richtung Beifall gibt, mit welcher Nonchalance man sich über das Begutachtungsrecht und andere bewährten Spielregeln hinwegsetzt und gleichzeitig massiv in das Selbstverwaltungsrecht eingreifen will. Man vergisst aber, dass die Sozialpartnerschaft kein Gnadengeschenk der Arbeitgeber an die Arbeitnehmer ist, auch kein Gnadengeschenk der Arbeitnehmer an die Arbeitgevelle ber, sondern Ausdruck der Vernunft und Bereitschaft, Interessensgegensätze in einer dem ganzen Land nützenden Weise zu lösen. Nicht umsonst ist die Sozialpartnerschaft europaweit bewundert worden. Man kann sie beschädigen und hinausdrängen. Aber wenn der Schaden spürbar wird und sich andere Formen der Konfliktaustragung herausbilden, die größere Reibungsverluste mit sich bringen, wird es zu spät sein, den Fehler zu korrigieren. Vertrauen kann viel rascher zerstört als wiederaufgebaut werden.
Ich habe vor einigen Tagen die neu gewählte Präsidentin der Arbeiterkammer, Renate Anderl, zu einem Gespräch eingeladen und habe sie gefragt, wie sie sich als erprobte Sozialpartnerin in ihrer neuen Funktion in einer neuen Phase der österreichischen Politik fühle.
Ihre Antwort lautete sinngemäß: „Ich bin wirklich überrascht, dass Kontakte zur Regierung de facto nicht mehr existieren. Die neue Regierungsmannschaft glaubt wirklich, sie kann alles besser und am besten allein. Es gibt kaum Gespräche und daher auch keinerlei Gesprächsergebnisse.“
Ich bin besorgt über diesen Befund, denn wenn man weiß, wie wichtig das Gespräch für die Demokratie ist und wie rasch ein Mangel an Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft zu Vertrauensverlusten und noch größeren Schäden führen kann, dann fragt man sich, wieso denn die Lehren aus der Geschichte jetzt so rasch verloren gehen.