Der neue Weg afrikanischer Migranten führt über den Süden von Spanien. Sie wollen vor allem nach Deutschland.
REPORTAGE. Der neue Weg nach Europa führt für afrikanische Flüchtlinge über das Mittelmeer und Südspanien. Vor allem Deutschland lockt als Ziel. In nur drei Tagen wurden 1400 Menschen gerettet.
Den ganzen Tag war der orangefarbene Seenotrettungskreuzer „Rio Aragón“vor der südspanischen Küste im Einsatz. Mehr als 100 Menschen fischten die Retter binnen weniger Stunden aus dem Wasser, darunter auch zwei Babys. Die schiffbrüchigen Migranten waren in vier kleinen Booten unterwegs. Kleine, wackelige Kähne aus Holz oder Gummi, die in Spanien „pateras“genannt werden.
„So geht das fast jeden Tag“, sagt Juan Alcausa. Der Koordinator des Roten Kreuzes im südspanischen Küstenort Motril wartet mit seinem Team im Hafen auf die Geretteten. Jetzt, wo das Meer ruhiger sei, schickten die Menschenschlepper auf der anderen Seite des Mittelmeers besonders viele Boote auf die Reise. „Wir stehen vor einem heißen Flüchtlingssommer“, fürchtet Alcausa. Im August könnte es noch schlimmer werden. Die 60.000-Einwohner-Stadt Motril in der andalusischen Provinz Granada ist einer der neuen Brennpunkte des Migrationsdramas im Mittelmeer. Zusammen mit den südspanischen Hafenstädten Algeciras, Almería, Cádiz und Tarifa, wo ebenfalls immer mehr Schiffe aus Nordafrika landen. Die spanische Seenotrettung hat vor der Südküste des Landes innerhalb von drei Tagen mehr als 1400 Flüchtlinge auf mehreren Dutzend Booten gerettet.
Spanien, so scheint es, ist für die Flüchtlinge zum neuen Italien geworden – zum wichtigsten Migrationsziel in Südeuropa. Während an italienischen Küsten immer weniger Boote ankommen, hat sich die Zahl der Ankünfte in der Region Andalusien verdreifacht. Der RotKreuz-Mann Alcausa glaubt nicht, dass sich dies schnell wieder ändert. Der Weg Richtung Italien ist weitgehend ge- kappt. Das liegt daran, dass die EU die Zusammenarbeit mit Libyens Küstenwacht verstärkt hat. Zudem hat die neue Regierung in Rom die Häfen für Flüchtlingsboote geschlossen. Nun hat sich die Route nach Spanien verlagert. Nur mit Abschottung und mehr Grenzschutz sei diese Krise nicht zu V lösen, meint Alcausa. iele jener Migranten, die in Motril vom Rettungsschiff „Rio Aragón“auf die Hafenmole klettern, haben noch Schwimmwesten an. Andere sind in rote Decken gehüllt, weil sie ausgekühlt sind. Fast alle sind Schwarzafrikaner aus den Armutsländern unterhalb der Sahara. Nach den ersten Schritten auf dem europäischen Kontinent gehen einige auf die Knie, küssen den Boden. Manche recken triumphierend die Arme in die Höhe. Die Hoffnung auf ein besseres Leben sei offenbar größer als das Leiden.
alle müssen auf dem Weg nach Nordafrika die Sahara durchqueren, wo Schätzungen zufolge mehr Migranten sterben als im Mittelmeer. Der 26jährige Abouo brauchte ein Jahr, um sich von seinem Heimatland Elfenbeinküste über Mali und Mauretanien durch die Wüste bis nach Marokko durchzuschlagen – unterwegs hat er gearbeitet, um Geld für die Weiterreise zu besorgen. Alle hätten nur ein Ziel: Europa.
„Rund 50.000 Schwarzafrikaner warten in Marokko darauf, das Mittelmeer zu überqueren“, meldet Spaniens nationale Zeitung „El Mundo“unter Berufung auf spanische Sicherheitsbehörden. Manche versuchen es zunächst über die spanischen Nordafrika-Exklaven Melilla oder Ceuta. Andere versuchen gleich, von Marokko aus überzusetzen. So hat es auch Abouo gemacht. An der marokkanischen Küste bezahlte er einem Schlepper umgerechnet 800 Euro für die 180 Kilometer lange Überfahrt. Ja, er habe Angst im Boot gehabt, berichtet er. Angst, nicht lebend anzukommen. Warum er es trotzdem wagte? „In Afrika gibt es keine Arbeit und viele Probleme.“In Motril erwartet ihn zunächst die Festnahme. Der junge Afrikaner, der in der Heimat Lastwagenfahrer war, wird wie alle anderen, die an diesem Tag in Motril stranden, von der Polizei in ein überfülltes Auffanglager überführt.
Die Zustände sind erbärmlich, beklagt die andalusische Politikerin Maribel Mora von der linksalternativen Partei PoSie demos: „Dies ist ein Haftzentrum, wo sie in Zellen gesteckt werden. Obwohl dies Menschen sind, die auf dem Meer gerettet wurden und viele von ihnen das Trauma eines Schiffsbruchs E hinter sich haben.“twas besser sind die Zustände in einer städtischen Sporthalle im Norden Motrils, wo ein weiteres provisorisches Lager eingerichtet wurde. In diesen geschlossenen Zentren, zu denen auch Journalisten keinen Zutritt haben, verbringen die Migranten die ersten 72 Stunden nach ihrer Ankunft. In dieser Frist entscheidet die Ausländerpolizei über ihr Schicksal – Abschiebung oder Freiheit.
Die meisten können später mit Freilassung rechnen. Weil sie im Lager einen Asylantrag stellen, der sie vor Abschiebung schützt. Weil Identität oder Herkunftsland nicht zweifelsfrei geklärt werden können, was auch daran liegt, dass die meisten ihre Papiere ins Meer werfen. Oder sie kommen schlicht frei, weil sie schnell Platz für die nächsten Schiffbrüchigen machen müssen. Weniger als zehn Prozent der Ankommenden werden laut Statistik abgeschoben – vor allem Marokkaner.
„Kollaps an der andalusischen Küste“, meldet der Radiosender SER. Derweil haben 38 andalusische Hilfsorganisationen eine Protesterklärung verfasst: „Spanien reagiert mit besorgniserregender Improvisation auf die Migrationskrise.“„Es mangelt an staatlicher Vorsorge“, beklagt Miguel Salinas, Sprecher von Motril Acoge. Und an politischem Willen.
Ein Polizist, der draußen vor dem Flüchtlingslager Wache schiebt, bricht sein Schweigen, ohne seinen Namen zu nennen: „Erzählt allen die traurige Wahrheit – das ist ein Drama.“Die Menschen, die er bewachen muss, tun ihm leid: „Das sind sehr anständige Leute. Gehorsam und fleißig.“Die meisten Schwarzafrikaner wollten ohnehin nicht in Spanien bleiben, einem Land, in dem es wenig soziale Leistungen gebe, sagt der Beamte, „Die wollen nach Frankreich, nach Deutschland.“Vor allem „Alemania“habe große Anziehungskraft. Warum? „Die schauen in ihren Heimatländern auch Fernsehen“, sagt Rot-Kreuz-Mitarbeiter Alcausa. „Sie glauben, dass es ihnen in Deutschland oder Frankreich besser geht als in Spanien.“Motril sei nur Zwischenstation, Spanien ein Transitland auf dem Weg zum Ziel.
Spaniens Rotes Kreuz, das im staatlichen Auftrag handelt, hilft den Migranten, die Reise fortzusetzen: Von Südspanien aus werden die Flüchtlinge mit Butterbrot, Wasserflasche und einem Busticket weiter geschickt – in Richtung Norden.