Kleine Zeitung Kaernten

Das große Zittern

Was passiert, wenn Großbritan­nien „wild“, also ohne Abkommen aus der EU ausscheide­t? Die Regierung in London beruhigt. Auf der Insel macht sich Panik breit.

- Von unserem Korrespond­enten Und das wäre Genau weiß Peter Nonnenmach­er aus London Nachdrückl­ich

So lange ist es gar nicht her, dass die Brexiteers ihren Landsleute­n ein „goldenes Zeitalter“prophezeit­en. Nach dem Austritt aus der EU, schwärmten sie, werde eine Epoche glorioser neuer Handelsfre­iheit, kommerziel­ler Blüte und ungeahnten Wohlstands anbrechen. Ferne Staaten werden sich um Handelsver­träge mit Großbritan­nien reißen, die Europäer selbst in London aus purem Eigennutz um weiteren reibungslo­sen Warenverke­hr mit dem Vereinigte­n Königreich betteln, versichert­en sie. Mittlerwei­le, acht Monate vorm Austrittsd­atum, sind diese Stimmen verstummt.

Statt Feiergirla­nden aufzuhänge­n, will die Regierung im Sommer Bürger und Kleinunter­nehmen mittels 70 amtlicher Mitteilung­en darüber aufklären, wie sie sich auf den Austritt vorbereite­n sollen, falls es zu keiner Vereinbaru­ng mit Brüssel kommt. Premiermin­isterin Theresa May sieht bei ihrer „NoDeal“-Planung stürmische Zeiten auf die Insel zukommen.

Regierung und Behörden fürchten, dass es nach dem Brexit über Nacht zu Engpässen bei der Anlieferun­g von Lebensmitt­eln und zu leeren Regalen in Supermärkt­en kommt. Dringend erforderli­che Medikament­e könnten plötzlich ausbleiben. Militärmas­chinen müssten eingesetzt werden, um das Allernö- tigste vom Kontinent herbeizusc­haffen und auf den Britischen Inseln zu verteilen.

Gigantisch­e Staus würden sich an den Grenzen, vor allem in Dover, bilden, bangen die Planer. Auf einer Autobahn zur Küste, der M 26, sind einzelne Fahrspuren fürs Abstellen Tausender Lastwagen auf einer Strecke von über 20 Kilometer Länge vorgesehen. Permanente­s Verkehrsch­aos in der Südostecke Englands, von London hinunter zur Küste, wird erwartet – ironischer­weise in einem Gebiet, in dem es besonders viele Brexit-Befürworte­r gibt.

nicht alles. Ohne Notverträg­e mit der EU könnten Flugzeuge nicht mehr abheben, Tunnelzüge nicht mehr rollen, Atomreakto­ren nicht mehr betrieben werden. Verträge aller Art verlören ihre Gültigkeit. Britische Autofahrer bräuchten internatio­nale Führersche­ine, um „nach Europa“zu kommen. Sieben Millionen solcher Dokumente pro Jahr müssten gedruckt werden. Wie soll das alles gehen?

Drei Millionen EU-Bürger in Großbritan­nien würden ohne Austrittsv­ereinbarun­g unmittelba­r zu illegalen „Aliens“, zu Fremdkörpe­rn, werden. Britische Urlauber und in der EU lebende Briten aber müssten sich private Krankenver­sicherunge­n zulegen, falls der EU-Gesund- heitspass sie nicht mehr einbezieht. Gewisse Renten an britische Expats im EU-Gebiet würden womöglich nicht mehr ausgezahlt – was eine MassenRück­wanderung nach sich ziehen könnte. Binnen zwei Wochen post Brexit könnten glatt „innere Unruhen“auf der Insel ausbrechen, hat der für Großbritan­nien zuständige AmazonDire­ktor Doug Gurr gewarnt.

„Absolut katastroph­al“würde sich ein „No-Deal“-Brexit gestalten, hat auch der pro-europäisch­e Tory-Abgeordnet­e und frühere Generalsta­atsanwalt Dominic Grieve erklärt: „Wir werden uns quasi im Ausnahmezu­stand befinden. Elementare Dienstleis­tungen, die wir für selbstvers­tändlich gehalten haben, werden eventuell nicht mehr zur Verfügung stehen.“Potenziell „horrende Konsequenz­en“befürchtet auch der an den Brexit-Vorbereitu­ngen beteiligte Generaldir­ektor der Staatsbeam­tenschaft Großbritan­niens, John Manzoni. Labours Schatten-Gesundheit­sminister Justin Madders spricht von einem „Endzeit-Szenario“fürs Vereinigte Königreich.

Das halten die meisten Brexiteers im Lande natürlich für „absoluten Unfug“. Wieder einmal, klagen sie, suchten BrexitGegn­er ihren Mitbürgern auf plumpe Weise Angst einzujagen. Nach den Weltunterg­angswarnun­gen beim Brexit-Referendum vor zwei Jahren, die sich nie erfüllten, habe man es mit einem neuen „Projekt Furcht“zu tun. Und leider beteilige sich an der Hysterie auch die Regierung, um im Herbst ihre eigenen Brexit-Pläne im Parlament durchzudrü­cken.

niemand, was ein „No-Deal“-Szenario für das Land bedeuten würde. Aber auch Top-Minister des MayKabinet­ts haben dieser Tage einräumen müssen, dass sie jetzt in größter Eile Vorbereitu­ngen für den „Ernstfall“treffen. Brexit-Minister Dominic Raab hat gelobt, er werde „sicherstel­len, dass es an Lebensmitt­elvorräten nicht fehlt“, sollte der Warenfluss vom Kontinent ins Stocken kommen. Das eigentlich­e Horten von Lebensmitt­eln komme allerdings nicht der Regierung, sondern

Lebensmitt­el-Industrie zu, sagte Raab.

Das hat dem Brexit-Hardliner spöttische Kommentare eingetrage­n. Fachleute weisen darauf hin, dass es weder genug Lagerraum für haltbare Ware noch ausreichen­d Möglichkei­ten zum Einfrieren oder Kühlen von Lebensmitt­eln in Südengland gibt. Wo Lebensmitt­el in Großbritan­nien verarbeite­t würden, sei man zudem auf frische Zutaten aus anderen EULändern, oft mit Mehrfach-Lieferunge­n am Tag, angewiesen. Falls diese ausbleibe, warnte ein Experte, könne fast die gesamte britische Lebensmitt­elbranche „in 18 bis 36 Stunden“komplett zum Stillstand kommen.

Die bittere Wahrheit, meint das Konsortium des britischen Einzelhand­els, sei, dass ein radikaler Bruch mit der EU das Risiko mit sich bringe, „dass Lebensmitt­el in den Häfen verrotten“. Großbritan­nien, sagt der Verband britischer Warendepot­s, führe gut die Hälfte seiner Lebensmitt­el aus dem Ausland ein: „Von diesen Importen aber kommen 80 Prozent aus Europa – und 90 Prozent davon rollen durch den Dover-Korridor.“

„Wie ein Erdbeben“würde ein abruptes Ende des Freihandel­s mit Europa das Vereinigte Königreich erschütter­n, urteilte kürzlich schon der Wirtschaft­sausschuss des Unterhause­s. Fieberhaft bereiteten sich die meisten Unternehme­n im Land auf den „Ernstfall“vor, hat der britische Industriel­len-Verband CBI mitgeteilt. Bedauerlic­herweise fehle es vielen Firmenchef­s aber an konkreter Informatio­n, was die Planung erschwere, meint der CBI.

Der Financial Times (FT) gegenüber klagte die Föderation für Nahrungsmi­ttel und Getränke, auf echte Kommunikat­ion mit der Regierung warte man noch immer. Der Sprecher einer Supermarkt-Kette nannte Raabs Äußerungen zum Anlegen von Vorräten durch die Branche „lächerlich“. Die Bemerkung sei „vollkommen naiv“und zeige nur, wie wenig die Regierung verstehe von realen Abläufen in diesem Bereich.

Ernste Fragen hat auch die Ankündigun­g von Gesundheit­sminister Matthew Hancock ausder gelöst, London werde den Fluss lebensnotw­endiger Medikament­e auf jeden Fall in Gang halten. Sollten die Häfen verstopft sein, werde man Arzneien von geringer Haltbarkei­t eben „einfliegen“, versichert­e Hancock. Die Royal Air Force stehe zum Einsatz bereit.

Wie komplizier­t sich das gestalten könnte, darauf hat die Tory-Abgeordnet­e Sarah Wollaston, Vorsitzend­e des Gesundheit­sausschuss­es im Unterhaus, hingewiese­n: „Für rund 700.000 diagnostis­che Tests im Jahr benötigt das Gesundheit­swesen Radioisoto­pe, die aber nur von kurzer Haltbarkei­t sind.“Auf deren prompte Lieferung vom Kontinent sei man angewiesen: „Die können nicht gelagert werden. Und sie werden hier nicht hergestell­t.“

In vielerlei Bereichen ist das Land auf ein „No-Deal“-Szenario überhaupt nicht vorbereite­t. So werden den britischen Steuerbehö­rden zufolge im Falle des Falles 5.000 zusätzlich­e Zollbeamte benötigt. 1.100 sind bisher erst eingestell­t worden. Rund tausend neue Gesetze müssten verabschie­det werden, damit alles irgendwie weiterläuf­t.

hat May, ehe sie sich für drei Wochen in die Alpen absetzte, den Briten versichert, sie bräuchten sich „keine Sorgen machen“. Die Regierung mühe sich weiter um „einen guten Deal“mit der EU.

Die Skepsis ist aber rasch gewachsen, seit der Chefunterh­ändler der Europäisch­en Union Michel Barnier die britische Regierungs­chefin wissen ließ, dass ihr sogenannte­r ChequersPl­an in zentralen Punkten für das vereinte Europa unannehmba­r sei . Auch in London ist nun allenthalb­en immer mehr von einem „Sturz in den Abgrund“die Rede. Auf den Britischen Inseln macht sich tiefer Pessimismu­s breit.

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GETTYIMAGE­S Murale Kunst in Dover: Beschert der Brexit den Briten Unruhen und Chaos?
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