Das große Zittern
Was passiert, wenn Großbritannien „wild“, also ohne Abkommen aus der EU ausscheidet? Die Regierung in London beruhigt. Auf der Insel macht sich Panik breit.
So lange ist es gar nicht her, dass die Brexiteers ihren Landsleuten ein „goldenes Zeitalter“prophezeiten. Nach dem Austritt aus der EU, schwärmten sie, werde eine Epoche glorioser neuer Handelsfreiheit, kommerzieller Blüte und ungeahnten Wohlstands anbrechen. Ferne Staaten werden sich um Handelsverträge mit Großbritannien reißen, die Europäer selbst in London aus purem Eigennutz um weiteren reibungslosen Warenverkehr mit dem Vereinigten Königreich betteln, versicherten sie. Mittlerweile, acht Monate vorm Austrittsdatum, sind diese Stimmen verstummt.
Statt Feiergirlanden aufzuhängen, will die Regierung im Sommer Bürger und Kleinunternehmen mittels 70 amtlicher Mitteilungen darüber aufklären, wie sie sich auf den Austritt vorbereiten sollen, falls es zu keiner Vereinbarung mit Brüssel kommt. Premierministerin Theresa May sieht bei ihrer „NoDeal“-Planung stürmische Zeiten auf die Insel zukommen.
Regierung und Behörden fürchten, dass es nach dem Brexit über Nacht zu Engpässen bei der Anlieferung von Lebensmitteln und zu leeren Regalen in Supermärkten kommt. Dringend erforderliche Medikamente könnten plötzlich ausbleiben. Militärmaschinen müssten eingesetzt werden, um das Allernö- tigste vom Kontinent herbeizuschaffen und auf den Britischen Inseln zu verteilen.
Gigantische Staus würden sich an den Grenzen, vor allem in Dover, bilden, bangen die Planer. Auf einer Autobahn zur Küste, der M 26, sind einzelne Fahrspuren fürs Abstellen Tausender Lastwagen auf einer Strecke von über 20 Kilometer Länge vorgesehen. Permanentes Verkehrschaos in der Südostecke Englands, von London hinunter zur Küste, wird erwartet – ironischerweise in einem Gebiet, in dem es besonders viele Brexit-Befürworter gibt.
nicht alles. Ohne Notverträge mit der EU könnten Flugzeuge nicht mehr abheben, Tunnelzüge nicht mehr rollen, Atomreaktoren nicht mehr betrieben werden. Verträge aller Art verlören ihre Gültigkeit. Britische Autofahrer bräuchten internationale Führerscheine, um „nach Europa“zu kommen. Sieben Millionen solcher Dokumente pro Jahr müssten gedruckt werden. Wie soll das alles gehen?
Drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien würden ohne Austrittsvereinbarung unmittelbar zu illegalen „Aliens“, zu Fremdkörpern, werden. Britische Urlauber und in der EU lebende Briten aber müssten sich private Krankenversicherungen zulegen, falls der EU-Gesund- heitspass sie nicht mehr einbezieht. Gewisse Renten an britische Expats im EU-Gebiet würden womöglich nicht mehr ausgezahlt – was eine MassenRückwanderung nach sich ziehen könnte. Binnen zwei Wochen post Brexit könnten glatt „innere Unruhen“auf der Insel ausbrechen, hat der für Großbritannien zuständige AmazonDirektor Doug Gurr gewarnt.
„Absolut katastrophal“würde sich ein „No-Deal“-Brexit gestalten, hat auch der pro-europäische Tory-Abgeordnete und frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve erklärt: „Wir werden uns quasi im Ausnahmezustand befinden. Elementare Dienstleistungen, die wir für selbstverständlich gehalten haben, werden eventuell nicht mehr zur Verfügung stehen.“Potenziell „horrende Konsequenzen“befürchtet auch der an den Brexit-Vorbereitungen beteiligte Generaldirektor der Staatsbeamtenschaft Großbritanniens, John Manzoni. Labours Schatten-Gesundheitsminister Justin Madders spricht von einem „Endzeit-Szenario“fürs Vereinigte Königreich.
Das halten die meisten Brexiteers im Lande natürlich für „absoluten Unfug“. Wieder einmal, klagen sie, suchten BrexitGegner ihren Mitbürgern auf plumpe Weise Angst einzujagen. Nach den Weltuntergangswarnungen beim Brexit-Referendum vor zwei Jahren, die sich nie erfüllten, habe man es mit einem neuen „Projekt Furcht“zu tun. Und leider beteilige sich an der Hysterie auch die Regierung, um im Herbst ihre eigenen Brexit-Pläne im Parlament durchzudrücken.
niemand, was ein „No-Deal“-Szenario für das Land bedeuten würde. Aber auch Top-Minister des MayKabinetts haben dieser Tage einräumen müssen, dass sie jetzt in größter Eile Vorbereitungen für den „Ernstfall“treffen. Brexit-Minister Dominic Raab hat gelobt, er werde „sicherstellen, dass es an Lebensmittelvorräten nicht fehlt“, sollte der Warenfluss vom Kontinent ins Stocken kommen. Das eigentliche Horten von Lebensmitteln komme allerdings nicht der Regierung, sondern
Lebensmittel-Industrie zu, sagte Raab.
Das hat dem Brexit-Hardliner spöttische Kommentare eingetragen. Fachleute weisen darauf hin, dass es weder genug Lagerraum für haltbare Ware noch ausreichend Möglichkeiten zum Einfrieren oder Kühlen von Lebensmitteln in Südengland gibt. Wo Lebensmittel in Großbritannien verarbeitet würden, sei man zudem auf frische Zutaten aus anderen EULändern, oft mit Mehrfach-Lieferungen am Tag, angewiesen. Falls diese ausbleibe, warnte ein Experte, könne fast die gesamte britische Lebensmittelbranche „in 18 bis 36 Stunden“komplett zum Stillstand kommen.
Die bittere Wahrheit, meint das Konsortium des britischen Einzelhandels, sei, dass ein radikaler Bruch mit der EU das Risiko mit sich bringe, „dass Lebensmittel in den Häfen verrotten“. Großbritannien, sagt der Verband britischer Warendepots, führe gut die Hälfte seiner Lebensmittel aus dem Ausland ein: „Von diesen Importen aber kommen 80 Prozent aus Europa – und 90 Prozent davon rollen durch den Dover-Korridor.“
„Wie ein Erdbeben“würde ein abruptes Ende des Freihandels mit Europa das Vereinigte Königreich erschüttern, urteilte kürzlich schon der Wirtschaftsausschuss des Unterhauses. Fieberhaft bereiteten sich die meisten Unternehmen im Land auf den „Ernstfall“vor, hat der britische Industriellen-Verband CBI mitgeteilt. Bedauerlicherweise fehle es vielen Firmenchefs aber an konkreter Information, was die Planung erschwere, meint der CBI.
Der Financial Times (FT) gegenüber klagte die Föderation für Nahrungsmittel und Getränke, auf echte Kommunikation mit der Regierung warte man noch immer. Der Sprecher einer Supermarkt-Kette nannte Raabs Äußerungen zum Anlegen von Vorräten durch die Branche „lächerlich“. Die Bemerkung sei „vollkommen naiv“und zeige nur, wie wenig die Regierung verstehe von realen Abläufen in diesem Bereich.
Ernste Fragen hat auch die Ankündigung von Gesundheitsminister Matthew Hancock ausder gelöst, London werde den Fluss lebensnotwendiger Medikamente auf jeden Fall in Gang halten. Sollten die Häfen verstopft sein, werde man Arzneien von geringer Haltbarkeit eben „einfliegen“, versicherte Hancock. Die Royal Air Force stehe zum Einsatz bereit.
Wie kompliziert sich das gestalten könnte, darauf hat die Tory-Abgeordnete Sarah Wollaston, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Unterhaus, hingewiesen: „Für rund 700.000 diagnostische Tests im Jahr benötigt das Gesundheitswesen Radioisotope, die aber nur von kurzer Haltbarkeit sind.“Auf deren prompte Lieferung vom Kontinent sei man angewiesen: „Die können nicht gelagert werden. Und sie werden hier nicht hergestellt.“
In vielerlei Bereichen ist das Land auf ein „No-Deal“-Szenario überhaupt nicht vorbereitet. So werden den britischen Steuerbehörden zufolge im Falle des Falles 5.000 zusätzliche Zollbeamte benötigt. 1.100 sind bisher erst eingestellt worden. Rund tausend neue Gesetze müssten verabschiedet werden, damit alles irgendwie weiterläuft.
hat May, ehe sie sich für drei Wochen in die Alpen absetzte, den Briten versichert, sie bräuchten sich „keine Sorgen machen“. Die Regierung mühe sich weiter um „einen guten Deal“mit der EU.
Die Skepsis ist aber rasch gewachsen, seit der Chefunterhändler der Europäischen Union Michel Barnier die britische Regierungschefin wissen ließ, dass ihr sogenannter ChequersPlan in zentralen Punkten für das vereinte Europa unannehmbar sei . Auch in London ist nun allenthalben immer mehr von einem „Sturz in den Abgrund“die Rede. Auf den Britischen Inseln macht sich tiefer Pessimismus breit.