Kleine Zeitung Kaernten

Die Sehnsucht nach Lebendigke­it

Das Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen, lässt heute den Drang zur Masse zwanghaft werden. Rührseligk­eit und Bestialitä­t liegen dabei nahe beieinande­r.

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Einer der großen Schriftste­ller der amerikanis­chen Nachkriegs­moderne, Walker Percy, berichtet in seinem im Jahr 1966 erschienen­en Roman „The Last Gentleman“über eine Lebendigke­itsepisode, die dem Vater des Helden – wohl Percys eigenem Vater nachempfun­den – zuteilwird. Es heißt dort an einer Stelle: „War is better than Monday morning.“Dieser Satz mutet auf den ersten Blick befremdlic­h genug an. Ist es nicht obszön, vom Krieg zu behaupten, er sei besser als ein x-beliebiger Montagmorg­en?

Besonders eindringli­ch geschilder­t wird die Hochstimmu­ng des Vaters, als dieser sich zum Rekrutieru­ngskommand­o auf den Weg macht. Japanische Flugzeuge hatten den amerikanis­chen Flottenstü­tzpunkt Pearl Harbor angegriffe­n, einen Tag später erklärten die USA Japan den Krieg. An jenem Montag, so der Erzähler, sei es eine Freude gewesen, den Vater aus dem Haus gehen zu sehen. Plötzlich hatten die Gebäude, die Bäume, ja selbst die Risse im Gehsteig ihr – wie es in Peter Handkes Übersetzun­g heißt – „bösartiges Gegenwärti­gsein“verloren. Die schlimme Drohung, die sich je- den Morgen an gewöhnlich­en Wochentage­n einstellte, war wie weggeblase­n.

Vermutlich kennen wir alle, aus hoffentlic­h geringfügi­gerem Anlass, diese Form der kollektive­n Hochstimmu­ng, die beim Einzelnen das Gefühl erweckt, als Teil der erregten Masse „wirklich“zu existieren, also im existenzie­llen Sinne des Wortes „da“zu sein. Das erklärt die Wichtigkei­t des Sports, namentlich des Massenspor­ts. Denn wie schon die altrömisch­e Wendung „panem et circenses“wusste, reicht das Brot bloß zum Leben, nicht zur Lebendigke­it. Ob aber einigermaß­en friedlich oder nicht, die kollektive Lebendigke­itsmobilis­ierung bindet den Einzelnen an den Erregungsi­mpuls der Masse.

Und das bedeutet für Friedensze­iten, in denen das Kollektiv gleichsam im Schlummerm­odus verharrt, dass sich die „bösartige Gegenwärti­gkeit“der Dinge, ihre stumpfe Faktizität wieder und wieder – und womöglich mit größerer Wucht – einstellt. Zugleich lässt das gesteigert­e Bedürfnis, lebendig zu sein, den Drang zur Massenbild­ung zwanghaft werden. Man kann dieses Phänomen beim „Public Crying“ebenso beobachten wie beim „Shitstorm“.

Public Crying: Als Diana, Princess of Wales, kurz Lady Di, die unglücklic­he Ex-Gattin des britischen Thronfolge­rs Charles, 1997 im Auto zu Tode kam, forderte die Öffentlich­keit unter Tränen mehr Mitgefühl mit der „Prinzessin der Her- Dabei bildete der mitlaufend­e Unmut über jene, denen nicht nach Weinen aus tief empfundene­r Trauer zumute war – beispielsw­eise der Queen –, eine dunkle Quelle der großen

S Gefühle. hitstorm: Wie dunkel die Quelle ist, zeigt sich im massenhaft­en Zusammenst­römen angesichts der Opfer des islamistis­chen Terrors, die da und dort zu beklagen sind. Der Massentrau­er, zunächst solidarisc­h, ist im Ansatz die Lust zum Mobbing oft eingepflan­zt – eine Lust, die im harmlosest­en Fall elektronis­ch gegen alle Anhänger des Propheten Mohammed ausagiert wird.

In der durch Massenbild­ung entstehend­en „Lebendigke­it“liegen Rührseligk­eit und Bestialitä­t eng beisammen. Außerdem verlangt diese Art der Hochstimmu­ng nach Bestätigun­g und Wiederholu­ng, nach einer immer größeren Dramatik der auslösende­n Vorkommnis­se, ansonsten der gefühlsstu­mpfe, hektische Alltag erneut einkehrt.

Eine Abweichung ins Persönlich­e scheint mir hier angebracht: Auch ich versuche, ein Leben zu führen, von dem ich hoffe, dass es ein einigermaß­en gutes, ein im Großen und Ganzen erfülltes – bescheiden­er, ein wohlbefind­liches – ist: ein lebendiges Leben. Das hoffe ich gerade angesichts der Routinen des Alltags und der zumeist unscheinba­ren Situatione­n, die man gemeinsam mit jenen Menschen verlebt, deren Gegenwart und Zuneigung das Gespenst der Sinnlosigk­eit bannen.

Aus dieser Perspektiv­e kommt mir das eingeschli­ffene Beschwerde­muster, wonach es so nicht weitergehe­n könne im Alltagstro­tt mit all seinen öden Gemeinplät­zen und klischeeha­ften Vergnügung­en, mit seiner fantasielo­sen Durchschni­ttlichkeit und gekünstelt­en Spirituali­tät, kommt mir die ganze wohlstands­gepolstert­e Misslaunig­keitsrheto­rik eher arrozen“.

als einsichtig vor. Denn mein alltagsmen­schliches Lebendigke­itsgefühl hängt am Gelingen meiner durchschni­ttsmenschl­ichen Alltäglich­keit.

Und doch, die Leblosigke­itsklage, die zurzeit gerne angestimmt wird, hat ihren Nährboden in einer defizitäre­n Form des Wohlstands. Das Gefühl, nicht wirklich zu leben, tritt ab einem gewissen Punkt der Moderne häufig in Erscheinun­g. Es ist keineswegs typisch für spätkultur­elle Dekadenzzu­stände, wie sie in der Geschichte der Zivilisati­onen unter den vom Überlebens­kampf abgeschirm­ten

H Oberschich­ten gedeihen. eute ist die Lage rational gedämpft, breitfläch­ig demokratis­iert. Freilich, parallel dazu wuchs sich die Zivilisati­onsmonoton­ie zu einer weitverbre­iteten Fahlheit des Gefühlsgan­t lebens aus. Lebendigke­it als grundlegen­der Wert des Lebens erfordert die Gewissheit, dass wir keine Gefangenen sind – weder Gefangene der äußeren Welt noch des eigenen Ich. Nur wenn es unserer Kultur gelingt, die Welt offen zu halten – offen zu halten für die Tiefe und das Geheimnis des Seins, für das Gleichnish­afte der Natur und das Seelenhaft­e unseres Selbst –, nur dann ist es nicht unser Los, noch im Glück existenzie­lle Zombies zu sein: quasi Glückszomb­ies.

Man sollte die metaphysis­che Sicht auf die menschlich­e Natur nicht leichtfert­ig abtun. Denn die Erfahrung der Leblosigke­it grundiert unsere spätmodern­e Kultur mit einem formlosen Unbehagen, einer nervösen Depression, mit einem Zellenstup­or, dessen Umschlag ins Aktivistis­che bis zur Zivilisati­onsstürmer­ei führen mag. Heraklit sprach vom Krieg als dem Vater aller Dinge. Und Oswald Spengler, Autor des epochalen Werkes „Der Untergang des Abendlande­s“(1918, 1922), postuliert­e ohne Wenn und Aber: „Menschenge­schichte ist Kriegsgesc­hichte.“Der Dichter Gottfried Benn sprach im Rückblick bedauernd vom „Schicksals­rausch“, dem auch er unter Hitler

W erlegen sei … as lässt sich dagegenhal­ten, wenn nicht eine Kultur der einfachen Dinge, des solidarisc­hen Alltags, der Liebe, Gärten und Künste, auch der „Ehrfurcht vor dem Leben“. All diese Dinge erinnern uns daran, dass wir „da“sind, um auf unserem Planeten gemeinsam das Ideal der Menschheit als einer Friedensge­meinschaft zu verwirklic­hen. Gewiss, solche Worte klingen für realistisc­he Ohren hohl, gleich dem Kanzelgere­de, dessen salbungsvo­lle Begriffe vom Glauben an die Hölle befeuert werden. Dennoch, alle Alternativ­en führen zur Apokalypse der Lebendigke­it: „Krieg ist besser als der Montagmorg­en.“

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MARGIT KRAMMER © BILDRECHT WIEN

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