Kleine Zeitung Kaernten

„Wir brauchen einen Kulturwand­el“

Europa müsste wieder eine Kultur der Leistungsb­ereitschaf­t kreieren, fordert die Wirtschaft­swissensch­aftlerin Evi Hartmann. Leistung sei zum Tabuthema geworden und die Leistungse­lite werde immer kleiner.

- Von Carina Kerschbaum­er

Frau Professor Hartmann, Sie beschäftig­en sich seit Langem mit der Leistungsb­ereitschaf­t von Europas Eliten und sind zum katastroph­alen Schluss gekommen, dass der Leistungsw­ille der Eliten dramatisch abnimmt. Warum? Verführt der heutige Wohlstand zum Mittelmaß?

EVI HARTMANN: Es wäre eine sehr harte Aussage, dass der Wohlstand zum Mittelmaß verführt. Ich glaube, dass wir uns in einer Entwicklun­g befinden, die zur Leistungsv­ermeidung führt, und sich dadurch eine Schonhaltu­ng etabliert, die alle oder zumindest sehr viele als sehr praktisch empfinden. Es wird heute nicht mehr negativ gesehen, wenn man sich bequem zurückzieh­t und sich denkt, andere führen die Arbeit aus.

Früher wurde eine solche Schonhaltu­ng negativ bewertet?

Ja, da hat sich in der Gesellscha­ft etwas geändert. Das ist natürlich auch den Umständen geschuldet. In einer Zeit wie heute, in der die meisten ein komfortabl­es Lebensumfe­ld vorfinden, ist auch der Ehrgeiz und der Anspruch ein anderer. Nach dem Krieg hat es natürlich eine andere Motivation gegeben, weil nichts vorhanden war. Meine Kinder wachsen in einer Gesellscha­ft auf, in der alles vorhanden ist.

Und deshalb kommt es zum „Bloß-nicht-überarbeit­en-Phänomen“, über das Personalch­efs klagen, wie Sie in Ihrem Buch „Über eine Elite ohne Ambition“schreiben?

Das ist schon eher Ausdruck eines Zeitgeiste­s. Man sieht das auch nicht nur in der Wirtschaft, sondern in der Schule, an den Universitä­ten. Der Personalvo­rstand eines Konzerns hat mir Folgendes erzählt. Er interviewt­e einen Kandidaten für eine Großprojek­tleitung mit einem Budget von 23,5 Millionen und sechsstell­igem Gehalt und der Kandidat fragte ihn, ob die Überstunde­n abgegolten oder abgefeiert werden. Er sagte, er frage dies wegen des Freizeitwe­rtes der Stelle. Der Personalvo­rstand wäre fast vom Stuhl gefallen und fragte mich: Würden Sie so jemanden einstellen, der im ersten Gespräch nicht über seine Leistungsb­ereitschaf­t redet, sondern über seine Freizeitbe­reitschaft?

Sie glauben, dass diese mangelnde Leistungsb­ereitschaf­t tatsächlic­h ein Problem in Europa ist? Das könnten auch Einzelfäll­e sein.

Das sind keine Einzelfäll­e. Wir diskutiere­n über das Ausnutzen durch zu viel Arbeit, die zu Burn-out führt, wir reden über Work-Life-Balance. Es hat sich die übergenera­lisierende Ansicht breitgemac­ht, dass Arbeit an sich schädlich sei. Das sind alles Diskussion­en, die dazu führen, dass Leistungsv­ermeidung en vogue wird. Immer mehr Menschen, die absolut leistungsf­ähig wären, versuchen prophylakt­isch im Sinne der eigenen Gesundheit­svorsorge so viel Arbeit wie möglich zu vermeiden.

Mit dieser Kritik stehen Sie im völligen Gegensatz zu all jenen,

die auf steigende Belastunge­n und Überforder­ungen durch eine sich verändernd­e Arbeitswel­t hinweisen und vor einer nur mehr auf Leistung getrimmten Gesellscha­ft warnen. Da muss man schauen, was mit Leistung gemeint ist. Ich spreche nicht von Überforder­ung oder dass Leistung über die Grenzen hinaus gefordert wird. Das führt zu Burn-out, zu Überforder­ung, die krank macht. Darüber sind wir uns alle einig. Es geht darum, dass man das leistet, wozu man fähig ist, und dass man dies freiwillig macht und auch selbstvers­tändlich findet. Heute sind es immer weniger, die das tun, und immer mehr treten zurück und verlassen sich darauf, dass es noch andere gibt, die Spaß an der Leistung haben. Amazon-Gründer Jeff Bezos hat

in seinen ersten Wochen sicher nicht um 15 Uhr die Schnur aus der Hand fallen lassen.

Worauf führen Sie es zurück, dass nicht nur die Auswüchse der Leistungsg­esellschaf­t, sondern nach Ihren Beobachtun­gen auch die Leistung an sich radikal infrage gestellt wird und sehr gute Schüler oft auch als Streber in die Ecke gestellt werden? Das ist der momentane Trend, der mitreißt. Es entspricht auch dem Naturell der Menschen. Wir müssen aber wieder dahin kommen, dass Leistung wertgeschä­tzt und man nicht negativ als karrierebe­sessen hingestell­t wird. Wer soll denn die Herausford­erungen meistern, vor denen Europa in der Digitalisi­erung, in der Elektromob­ilität steht? Wo stehen wir in der Automobili­ndustrie? Niemand weiß, ob es in 30 Jahren noch Automobilh­ersteller in Deutschlan­d geben wird. Wenn sich die Leistungst­räger nicht mächtig anstrengen, werden wir bald überrollt.

Was macht Sie so sicher, dass die Eliten zu wenig leistungsb­ereit sind? Es gibt darüber keine wissenscha­ftlichen Studien, aber in allen Gesprächen, die ich mit der Wirtschaft führe, wird dieser Befund geteilt. Es geht hier um einen generation­sübergreif­enden Zeitgeist.

Ein Zeitgeist, der sagt, dass die Lebensqual­ität unter dem Wachstumsd­iktat leide und dass jeder verstärkt auf die Work-LifeBalanc­e achten sollte? Der Begriff Work-Life-Balance unterstell­t schon, dass das Leben gegen die Arbeit zu balanciere­n ist. Es ist doch ein Leben ohne Arbeit nicht möglich. Wir haben nicht den Feind Arbeit, der sich gegen das Leben stellt.

Sie verweisen auf den Zeitgeist. Paul Lafargue forderte bereits 1880 das „Recht auf Faulheit“als Maßnahme gegen die Arbeitsver­hältnisse. Herbert Marcuse definierte Leistung vor vielen Jahrzehnte­n als äußerliche Produktivi­tät, durch die der Mensch sich selbst entfremde. Ganz so neu ist die Kritik somit nicht. Recht auf Faulheit, Entfremdun­g. Das sind Schlagwort­e, aber keine Lösungsfor­men. Es ist unstrittig, dass einer, der Leistungsw­illen hat, auch einmal faul auf der Haut liegen kann. Es geht aber darum, dass jene, die leistungsf­ähig wären, nicht das leisten, was sie leisten könnten, weil sie sich verweigern. Wir müssten in Europa wieder eine Kultur der Leistungsb­ereitschaf­t kreieren. Das erfordert einen Kulturwand­el in den Schulen, in den Unternehme­n, an den Unis. Wo wird heute über Leistung diskutiert? Leistung ist zum Tabuthema geworden. Und jene, die überdurchs­chnittlich viel leisten, bekommen dafür in Betrieben oft unterdurch­schnittlic­h wenig Anerkennun­g. In den USA erhalten Kinder, die eine besondere Leistung in der Schule erbringen, eine Extraförde­rung. Bei uns gibt es höchstens eine Förderung für schlechte Schüler. Wie soll dann ein junger Mensch auf die Idee kommen, dass Leistung ein Teil unserer Kultur sein könnte?

Ein deutscher Großindust­rieller hat das triste Szenario eines Europas auf dem Abstellgle­is gezeichnet, das mit Asien mittelfris­tig nicht mehr wird mithalten können. Der Europäer wünsche sich die 35- oder 30-StundenWoc­he, während Chinesen oft 12 Stunden täglich arbeiten würden. Eine plakativ überzogene Kritik? Das ist die Beschreibu­ng der Entwicklun­g. Die Europäer wünschen sich etwas und die Chinesen arbeiten bis zur Selbstaufg­abe. Wenn man das in eine Waage einbaut, ist beides überzogen und schlecht. Wir haben die Freiheit in Europa, uns alles wünschen zu können, was wir gerne hätten, und die anderen haben das überzogene Arbeitsden­ken, was auch falsch ist. Hier bräuchten wir wirklich eine Balance.

 ??  ??
 ?? KALETSCH MEDIEN ?? Evi Hartmann studierte Wirtschaft­singenieur­wesen und lehrt als Universitä­tsprofesso­rin Betriebswi­rtschaftsl­ehre an der Universitä­t Erlangen-Nürnberg. In Ihrem Buch „Über eine Elite ohne Ambition“ortet sie eine „Epidemie der Leistungsv­erweigerun­g“von intelligen­ten, gut ausgebilde­ten Menschen. Sie ist Mutter von vier Kindern.
KALETSCH MEDIEN Evi Hartmann studierte Wirtschaft­singenieur­wesen und lehrt als Universitä­tsprofesso­rin Betriebswi­rtschaftsl­ehre an der Universitä­t Erlangen-Nürnberg. In Ihrem Buch „Über eine Elite ohne Ambition“ortet sie eine „Epidemie der Leistungsv­erweigerun­g“von intelligen­ten, gut ausgebilde­ten Menschen. Sie ist Mutter von vier Kindern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria