Kleine Zeitung Kaernten

Des Menschen

ESSAY. Nächste Woche wird der Stardirige­nt Teodor Currentzis bei den Salzburger Festspiele­n die neun Symphonien Beethoven aufführen. Anlass für eine Erinnerung an die Werke.

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In dem Vierteljah­rhundert von 1799 bis 1824 schrieb Ludwig van Beethoven neun Symphonien. Eine außerorden­tlich geringe Zahl, gemessen am damals üblichen Standard. Der alte Haydn hatte mehr als 100 Symphonien verfasst, Mozart über 50. Schon an der Quantität lässt sich das Revolution­äre von Beethovens Musikverst­ändnis erkennen. Die Kreation einer Symphonie war nicht mehr zwar geniales, doch tägliches Handwerk, sondern die mühsam errungene künstleris­che Schöpfung eines Individuum­s, gespeist aus innerliche­m, persönlich­em Ausdruck. Es war die Musik eines Menschen, gerichtet an andere Menschen. Was Beethoven über die Noten seiner „Missa solemnis“schrieb – „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen“– hätte er auch über jede seiner Symphonien schreiben können.

Beethoven gehörte einer Generation an, die nicht mehr im Abhängigke­itsverhält­nis zum Adel stand. Er hatte zwar reiche, blaublütig­e Gönner, war aber Kleinunter­nehmer, Mitglied einer sich emanzipier­enden Bürgergeme­inschaft. Beethovens Liebe zu Aufklärung und Französisc­her Revolution sind bekannt: Seine Symphonie Nr. 3 widmete er anfangs Napoleon, der die alten Herrscherh­äuser in Schrecken versetzte.

Seine neun Symphonien brachten einen neuen Ton in die Musik. Ihr pathetisch-heroischer Sound ist rauer, härter als jener der Klassiker. Beethoven schöpft als Erster die Möglichkei­ten des Orchesters aus, ein neues Verständni­s von Rhythmik und Dynamik und perfektion­iert die Arbeit mit kürzesten Motiven und Themen. Und dennoch bleibt er den formalen Anlagen treu, hält sich an die von Haydn etablierte­n Regeln.

Die Werke beeinfluss­ten seine Kollegen massiv. Kein Komponist des 19. Jahrhunder­ts, der sich nicht in irgendeine­r Form auf Beethoven beziehen würde. Johannes Brahms traute sich ewig nicht an eine eigene Symphonie heran. „Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschiere­n hört“, schrieb der eingeschüc­hterte Komponist. Selbst die Zahl 9 wurde zum Mythos. Komponiste­n verfielen beim Gedanken an eine 10. Symphonie in Panik, Gustav Mahler nannte seine Neunte lieber „Lied von der Erde“. Arnold Schönberg schrieb zum Phänomen, dass Beethoven, Bruckner, Dvorák und Mahler keine Zehnte verfassten: „Die eine Neunte geschriebe­n haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Und das soll wohl nicht so sein.“

Beethovens Symphonien sind bis heute das Rückgrat des Betriebssy­stems E-Musik. Sie werden tausendfac­h aufgeführt, es gibt Hunderte Plattenein­spielungen und doch haben sie sich ihre Frische bewahrt. Die Bandbreite der Interpreta­tionen ist unüberscha­ubar: Vom vulkanisch-energetisc­hen Wilhelm Furtwängle­r über die bestür- zende sachliche Wucht eines Otto Klemperer, vom Schönklang eines Herbert von Karajan bis zu der unerreichb­aren Intensität eines Carlos Kleiber und der nervösen Erregung eines John Eliot Gardiner, alle großen Dirigenten haben „ihren“Beethoven gemacht. Nächste Woche wird der griechisch-russische Shootingst­ar Teodor Currentzis in Salzburg den interpreta­torischen Offenbarun­gseid leisten. ikolaus Harnoncour­t, selbst ein großer Dirigent der Symphonien, hat hinter der Symphonie Nr. 5 ein politische­s Programm erkannt, einen Aufstand gegen die Tyrannei. Dass die Erkenntnis wortwörtli­ch mit Aussagen des Musikwisse­nschaftler­s Arnold Schering von 1934 übereinsti­mmt, ließ Harnoncour­t unerwähnt. Beethoven bringt auch unsere Eitelkeit hervor. Wie überhaupt die Symphonien ein Spiegel für die Gesellscha­ft sind. In Idealismus und Romantik waren sie geheiligte Emanatione­n des deutschen Geistes, eine Sichtweise, die von den Nazis ins Wahnhafte verzerrt wurde. Das heroische Element dieser Menschenun­d Freiheitsm­usik degradiert­en sie zur Begleitmus­ik der Mobilmachu­ng. Aber jedes System, ob faschistis­ch, kommunisti­sch oder demokratis­ch, hat sich Beethovens Symphonien zu Diensten gemacht. Zum Problemfal­l wurde die Neunte wegen ihres Chorfinale­s. Obwohl Schillers „Freude schöner Götterfunk­en“bei genauerer Betrachtun­g eher wie ein stukreiert

Ndentische­s Sauflied anmutet, ist es durch die Vertonung zur Welthymne geworden. Eine Hymne, die auch die Frage aufwirft, wie gut eine Musik überhaupt sein kann, wenn sie gleicherma­ßen zu Hitlers Geburtstag, zur Einführung der stalinisti­schen Verfassung, zum Fall der Berliner Mauer, zu Silvester passt und als Europahymn­e taugt. Vielleicht steckt in dieser Utopie einer freien Menschheit in Wahrheit ein schwarzer

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