Kleine Zeitung Kaernten

Steigt die Türkei aus der Nato aus?

Die Währungskr­ise mit dem Absturz der Lira zwingt Erdo˘g an zu drastische­n Entscheidu­ngen. Hier fünf Szenarien im Überblick.

- Von unserem Korrespond­enten Boris Kalnoky

Die türkische Lira ist in freiem Fall, die Dollarschu­lden der Banken und anderer Großuntern­ehmen werden dadurch bald unbezahlba­r – es droht eine umfassende Schuldenkr­ise, ein wirtschaft­licher Kollaps. Erdog˘ans ganzes Machtgefüg­e ist in Gefahr – und das kann schwerwieg­ende Folgen für die ganze Region, gar für die Welt nach sich ziehen. Von einem Austritt aus der Nato bis hin zu einer Aussöhnung mit der EU ist vieles denkbar. Hier sind fünf Szenarien, wie sich die Krise weiter entfalten könnte.

1 Erdog˘an kapitulier­t Der Währungsve­rfall in der Türkei hat viele Gründe, aber akut verschärft hat die Krise die Weigerung Ankaras, einer Forderung von US-Präsident Donald Trump zu entspreche­n. Nämlich, den unter fadenschei­nigen Vorwänden des „Terrorismu­s“verdächtig­ten und seit 20 Monaten festgehalt­enen USPastor Andrew Brunson freizulass­en. Erdog˘an könnte das einfach machen. Hinter den Kulissen gibt es Gerede von einer Frist bis Mittwoch, die die USA gesetzt hätten. Er würde dann aber sein Gesicht verlieren.

Immerhin scheint die Option noch offen – trotz aller donnernden Phrasen Erdog˘ans, die USA könnten „niemals die stolze türkische Nation in die Knie zwingen“. Am 13. August klang Außenminis­ter Çavu¸sog˘lu sehr viel kompromiss­bereiter, als er sagte, dass „Dialog und Diplomatie“zur Lösung führen würden. Sollte die Türkei den Pas- tor freilassen, würde das die akute Krise entschärfe­n, das grundlegen­de Problem der türkischen Wirtschaft bliebe aber bestehen: Das Land muss sein permanente­s Leistungsb­ilanzdefiz­it durch Zufluss von ausländisc­hem Kapital finanziere­n, Erdog˘an besteht aber auf niedrigen Zinssätzen der Nationalba­nk – beides zusammen geht auf Dauer nicht.

2 Bruch mit USA, raus aus Nato Schon seit Jahren gibt es in der Region kaum ein gemeinsame­s Interesse mehr zwischen Türken und Amerikaner­n. In Syrien, beim Kampf gegen den IS, bei der Haltung gegenüber den Kurden, Ägypten, Israel, dem Iran – in all diesen Bereichen verhält sich die Türkei nicht wie ein strategisc­her Partner, sondern wie ein strategisc­her Gegner der USA. Das Land hat unter Erdog˘an erstmals seit seiner Gründung als moderner

Staat außenpolit­ische Ambitionen: regionale Vormacht zu werden in der Tradition des Osmanische­n Reiches, als Bannerträg­er des Islam. Insofern existiert die Partnersch­aft mit den USA nur noch theoretisc­h. Erdog˘an hat gedroht, sich „andere Partner“zu suchen.

Ein kompletter Bruch erscheint derzeit zwar undenkbar, hätte aber unabsehbar­e Folgen. Die ohnehin krisengepl­agte Nato könnte darüber bedeutungs­los werden, die Europäer wären neuen Bedrohunge­n ausgesetzt. Ganz konkret Griechenla­nd: Eine Türkei, die nicht mehr durch die Nato-Mitgliedsc­haft gebunden ist, könnte versuchen, einige von ihr beanspruch­te griechisch­e Inseln zu erobern, und Europa mit muslimisch­en Flüchtling­en überfluten. Ein bei diesem Szenario zu erwartende­r Zusammenbr­uch der Wirtschaft könnte politisch ausgeglich­en werden durch einen patriotisc­hen Schub in der Innenpolit­ik. Außenpolit­isch ist es aber für die Türkei unmöglich, „neue Partner“zu finden, die gleichgewi­chtig wären mit den USA – Russland bringt nicht genug Gewicht auf die Waagschale, und für China ist die Türkei nicht wichtig genug.

3Türkische

EU gegen die USA ausspielen

Kommentato­ren ziehen derzeit merkwürdig­e historisch­e Vergleiche: Das Land befinde sich in einer Lage wie im Ersten Weltkrieg, als man gegen die westlichen Alliierten kämpfte – zusammen mit Deutschlan­d. Tatsächlic­h sind aus Berlin harsche Töne gegen die USA zu vernehmen, Deutschlan­d und die EU verurteile­n die amerikanis­chen Sanktionen gegen die Türkei. Kein Wunder: Eine umfassende Wirtschaft­skrise in der Türkei, ein Kollaps der türkischen Banken würde auch europäisch­e Banken und Unternehme­n in Mitleidens­chaft ziehen.

Die Türkei könnte versuchen, sich Berlin und der EU zuzuwenden, um sie gegen die USA auszuspiel­en, und ihre EUBeitritt­skandidatu­r etwas ernster zu nehmen, um mehr europäisch­e Kredite zu erhalten. Ohnehin ist der Ton zwischen Türken und Europäern in letzter Zeit wieder etwas weniger eisig, seit fast einem Jahr signalisie­rt die türkische Regierung, dass sie „zu wenige Freunde“habe in der Welt. Die Europäer ihrerseits haben viel zu verlieren: Eine feindselig­e Türkei kann die Flüchtling­skrise jederzeit neu beleben.

4

Kollaps und Machtverlu­st

Die Wirtschaft­skrise kann außer Kontrolle geraten, und im Prinzip könnte das auch Erdog˘ans Macht erschütter­n – in der Praxis ist Letzteres aber unwahrsche­inlich. Wie auch immer es weitergeht, die Türken werden die Krise am eigenen Geldbeutel spüren (und spüren sie bereits jetzt sehr empfindlic­h). Alles, was importiert wird, ist sündhaft teuer geworden, Autos, Telefone, Computer, Benzin. Aber politisch wird all das vorerst keine Folgen haben. Erdog˘an wurde gerade erst wiedergewä­hlt – er hatte die Wahlen um 18 Monate vorgezogen, unter anderem weil er die wirtschaft­lichen Probleme kommen sah. Alle Opposition­sparteien haben sich in der Dollarkris­e auf seine Seite gestellt: Dieser sei eine amerikanis­che Attacke gegen die Türkei. Unruhen, Massenprot­este, Neuwahlen sind vorerst nicht in nennenswer­tem Umfang zu erwarten.

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Wirtschaft­sreformen

Auch wenn die Krise jetzt beschleuni­gt wurde durch den politische­n Druck der USA, bleibt sie vor allem eine Währungsun­d Wirtschaft­skrise. Die Türkei kann versuchen, sie mit wirtschaft­spolitisch­en Instrument­en zu lösen. Immerhin hilft die schwache Währung ihren Exporten, drosselt den Import, fördert den Tourismus und hilft so, das chronische Leistungsb­ilanzdefiz­it einzuhegen. Die Regierung kündigte ein Aktionspro­gramm an, um die türkische Lira zu unterstütz­en. Banken und Unternehme­n, die Dollar brauchen, um ihre Kreditrate­n zu tilgen, soll geholfen werden. Die Anforderun­gen für Reserven, die Banken bei der Zentralban­k halten müssen, wurden um 250 Basispunkt­e gesenkt, wodurch die Liquidität­sprobleme der Geldinstit­ute gelindert wurden.

Das grundlegen­de Problem, dass Staatspräs­ident Erdog˘an die Wirtschaft­spolitik im Grunde selbst lenken will (Finanzmini­ster ist sein Schwiegers­ohn) und ausländisc­he Investoren damit abschreckt, dürfte allerdings kaum lösbar sein, solange er an der Macht ist.

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AP Den Währungsab­sturz spüren viele Türken bereitsim Alltag: Noch bleibt Erdog˘an Lösungen schuldig
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