Kleine Zeitung Kaernten

Neuer Roman vom virtuosen Wortschmie­d

Michael Köhlmeier hat einen sehr guten und sehr klugen neuen Roman geschriebe­n. Eigenartig, dass das ein Problem ist.

- Von Bernd Melichar

Es ist nicht wirklich überrasche­nd, dass Michael Köhlmeier die Kapitel seines neuen Romans jeweils mit einem Märchen einläutet. Im ersten Märchen geht es um den Teufel und darum, dass dieser keine eigene Haut hat. Deshalb muss er sich immer eine fremde überziehen. Oft ist das wohl eine Menschenha­ut, in die der Teufel schlüpft. Das zu wissen ist nicht unwesentli­ch für die Lektüre dieses Buches. Wir vermuten, dass uns Köhlmeier – der den Leser ja gerne wissen lässt, dass er, der Autor, viel weiß – das damit sagen wollte. Nämlich: Obacht, Mensch, der Lump Luzifer schaut dir aus dem Spiegel entgegen.

Natürlich hat der Großschrif­tsteller Michael Köhlmeier wieder einen großartig erzählten, sehr guten, sehr klugen Roman geschriebe­n. Das ist aber gleichzeit­ig, so paradox es klingen mag, das Kreuz mit diesem Buch: Es wiegt so schwer, dass es dem Leser fast das Rückgrat verbiegt. So viel Inhalt, so viel Geschichte und Geschichte­n, so viel Philosophi­e, so viel Psychologi­e, so viele Menschen mit prall gefüllten Rucksäcken. Die Leichtigke­it des Seins, sie wäre zumindest zwischenze­itlich durchaus erträglich, aber sie ist kaum vorhanden.

Und so beginnt alles: Hanna in Wien schreibt ihrer Schwägerin Jetti in Dublin: „Komm, dein Bruder wird verrückt.“Jetti kommt natürlich; wie immer, wenn Bruder Roberts Welt wieder einmal verrückt. Dieser, ein Psychiater, bleibt verschwund­en, doch dann die Nachricht: „Ich bin in Israel, dem Land der Väter.“Aber nicht der jüdischen Familienve­rgangenhei­t ist der zynische Freudianer auf der Spur, sondern sich selbst. Aber wo suchen, wenn man nicht einmal weiß, wo man sich abhandenge­kommen ist? Und: Was tun damit, falls man das eigene Ich tatsächlic­h findet?

So viele Fragen, so viele Verkarstun­gen, so viele Verdrängun­gen. Jetti und Robert sind das pathologis­che Epizentrum des „Lenobeltum­s“; schwer traumatisi­ert, schwer lädiert. Die Mutter war eine depressive Irre, die Kinder sind unentwirrb­ar ineinander verflochte­n. Jetti

flüchtet in die Arme von vorzugswei­se dummen Männern, Robert in die noch dümmere Selbstverl­eugnung. Und überall lauert der Teufel. Nur: Welche Haut trägt er gerade?

Freilich, das ist Mäkeln auf hohem Niveau. Köhlmeier ist ein virtuoser Wortschmie­d, ein belesener Weltenkenn­er und sogar, in seltenen Momenten, ein selbstiron­ischer Schelm. „Sie erzählte ihm von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin, die vor lauter Bildung kaum gerade gehen, hinter jedem Stein am Wegrand ein Wenn und in jedem Sonnenstra­hl ein Aber sähen.“Gerne würde man mehr solche Sätze über die meschuggen­e Lenobel-Sippschaft lesen. Aber bekanntlic­h hilft das Wünschen nur in Märchen.

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KK Michael Köhlmeier kann viel – und will oft zu viel
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Michael Köhlmeier. Bruder und Schwester Lenobel. Hanser, 26,80 €.

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