Chemnitz bleibt ruhig und diskutiert, während auf den Straßen die Rechtsradikalen weiter demonstrieren.
REPORTAGE. Wie gehen die Sachsen und ihre Politik mit den Ausschreitungen um? Ein Bürgergespräch soll erste Antworten bringen. Es ist ein Ventil. Während draußen eine Gruppe Rechtsextremer erneut demonstriert.
Die Ersten, die sich in die Schlange stellen zum „Sachsengespräch“mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), sind eingefleischte Chemnitzer. Sie, 49, er, 47. Auch ihren Sohn haben sie mitgebracht. Mit dem Neunjährigen waren sie auch am Montag auf der Demonstration, die eskalierte und von der Bilder um die Welt gingen, auf denen Männer die Arme zum Hitlergruß erhoben. Es war die erste Demonstration in ihrem Leben.
Eigentlich wollen sie mit der Presse lieber nicht reden. Aber auf die Frage, warum sie heute Abend hier sind, haben sie dann doch Antworten, eine Viertelstunde lang sprudelt es aus ihnen heraus. „Wenn ich durch Chemnitz gehe, habe ich das Gefühl, als gehe ich durch Köln“, sagt er. Es seien zu viele Flüchtlinge, die nach Chemnitz gekommen seien, die Stadt sei seither unsicher, als Frau könne man abends nicht mehr vor die Tür gehen, generell wüssten „die“sich nicht zu benehmen, würden schnell aggressiv, zückten die Messer. Der Mord an Daniel H. finde zu wenig Beach- tung, es gehe nur „um links gegen rechts“, nicht mehr „um uns, um die normalen Bürger“. Sie sind im Chemnitzer Stadion, um die Chance zu nutzen, ihre Politiker zur Rede zu stellen.
Das Gespräch war schon anberaumt, bevor es in Chemnitz kochte. Das Gesprächsformat gibt es, seit sich vor drei Jahren in Dresden Pegida gründete. Eigentlich ist die Stimmung seither ruhiger, die Reihen bei Pegida haben sich gelichtet. Sprechen wollte die junge Landesregierung trotzdem mit den Bürgern. Kretschmer zieht mit seinen Ministern durch das Land und plaudert mit den Bürgern am kleinen Tisch, nicht auf dem großen Podium. Unverfängliche PR – so sollte es laufen.
Dann aber wurde auf dem Chemnitzer Stadtfest ein 35-jähriger Tischler erstochen, ein Deutscher. Tatverdächtig sind zwei geduldete Asylwerber, einer aus dem Irak, einer aus Syrien – einer von ihnen mehrfach vorbestraft. In Chemnitz vermengen und entladen sich seither angestaute Unzufriedenheit mit der Asylpolitik und lange gehegter Rassismus. Rechts-
Hooligans und Organisationen bliesen zum Marsch, unzufriedene Bürger schlossen sich an. Am Sonntag und Montag überrollten die Demonstranten die Stadt und die Polizei, erst 800, dann 6000 schrien „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“und „Das hier ist unsere Stadt“. Auch das Sachsengespräch nutzt die rechte Bewegung „Pro Chemnitz“für eine Demo, die Polizei schätzt die Teilnehmer auf 900.
Die Vorfälle teilen das Land: Viele von außen sind fassungslos, sehen Chemnitz als Zeichen dafür, dass Hass und Rassismus vielerorts regieren statt der Demokratie, dass Sachsen ein „failed state“ist, in dem Gedankengut wie zur Nazizeit vorherrscht und die Behörden irgendwie mit rechts kollaborieren. In ihren Augen arbeiten die, die da in Chemnitz auf der Straße stehen, daran, das Deutschland zu zerstören, das sie lieben. Die Chemnitzer, die zum Sachsengespräch kommen, sehen das anders: Vor allem „ganz normale Bürger“hätten auf der Straße gestanden, die Rechten seien in der Unterzahl gewesen. Die Berichterstattung sei eine Katastrophe, sagen sie. Seither gelte ihre Stadt als „Nazihochburg“. Zu Unrecht, finden sie.
Für Kretschmer ist es ein Drahtseilakt. Er darf die Chemextreme
nitzer nicht vor den Kopf stoßen, viele in Sachsen denken so. Er darf aber auch nicht verharmlosen.
Er hat die Bilder gesehen, die Hitlergrüße, und weiß, dass er sich davon distanzieren muss. „Nachdem hier ein Mann so furchtbar ums Leben gekommen ist, können wir nicht einfach übergehen zur Tagesordnung“, sagt er. Dann folgt eine Schweigeminute. Durch die geöffneten Fenster ist das Grölen der anderen Straßenseite zu hören. „Ich habe viele getroffen, die sagen: Wir sind doch nicht alle rechtsradikal!“, sagt Kretschmer. „Und ich habe geantwortet: Ich weiß.“ Lauter Applaus, der erste. Das erste Buhen heischt er ein, als er Kraftklub erwähnt, eine der beliebtesten Bands des Landes, deren Mitglieder aus Chemnitz stammen. Er finde gut, dass die Band ein Konzert am Montag organisiert habe, um ein Zeichen zu setzen. „Heuchler!“Rufe. Unklar, ob Kraftklub oder Kretschmer gemeint ist. Von den prominenten Söhnen der Stadt fühlen sich viele verraten. Kretschmer hört vor allem zu, nickt, verspricht, Möglichkeiten zu suchen, um schneller und effektiver gegen Flüchtlinge vorgehen zu können, die kriminell werden. Wie das gehen soll? Das sagt Kretschmer nicht.