„Denn dann wäre der Mensch eine Maschine“
Ein plötzliches Tor kann ein Team kurz handlungsunfähig machen, sagt der Psychologe. Der Versuch einer Erklärung für Salzburgs 2:2.
Was ist ein Jahr im Verhältnis zu jenem Jahrzehnt der vergeblichen Liebesmühen? Im September 2019 steigt der FC Salzburg in die Gruppenphase der Champions League ein, wenn er 1.) Meister geworden ist und 2.) sich der Sieger des kommenden Bewerbs über dessen nationale Liga qualifiziert. Beim Pech der Salzburger ist letzterer Aspekt zwar auch nicht als gesichert zu betrachten, aber dann würde die Geschichte vom Fluch wohl endgültig Gestalt annehmen.
Ein solcher war es natürlich auch diesmal nicht, obwohl die Salzburger der Königsliga im elften Anlauf so nahe gekommen waren wie nie zuvor. Alles sprach für den österreichischen Serienmeister, aber trotzdem ist etwas passiert, das sich keiner erklären kann, auch Trainer Marco Rose nicht, der dem Klub eine rosige Zukunft prophezeit, auch wenn die Spieler derzeit im Jammertal beheimatet sind. „Großes“werde auf Salzburg zukommen, meinte er, noch im Angesicht des sportlichen Dramas, das nach einem 2:0-Vorsprung gegen Roter Stern Belgrad mit einem schicksalhaften 2:2 und dem damit verbundenen neuerlichen Rückfall in die Europa-LeagueGruppenphase endete.
Und bei allen Faktoren, die für Salzburg sprachen, so gibt es doch eine durchaus plausible Aufklärung des unwahrscheinlichen, scheinbar unwirklichen Geschehens. Ein Fehler kann passieren, natürlich. Dass dies in einem so entscheidenden Match geschieht, ist auch denkbar. Aber an dieser Stelle wird der Kopf zum Hauptdarsteller. Die Gedanken übernehmen die Herrschaft, der Körper wird machtlos. So urteilt jedenfalls der Mentalbetreuer. „Wenn so ein Tor fällt, dann ist die Aufmerksamkeit für einen gewissen Zeitraum dadurch gebunden“, sagt Sportpsychologe Thomas Brandauer. „In diesem Moment ist das normale Verhalten stark beeinträchtigt, der Fußballer in dieser Phase im Grunde nicht handlungsfähig“, erklärt Brandauer weiter. Daher passiere es häufig, dass auf ein Tor sehr rasch ein anderes folgt. Das wäre auch auf der anderen Seite möglich gewesen, dann nämlich, wenn die Belgrader in ihrem Taumel kurzfristig die Kontrolle über das Geschehen verloren hätten. Doch dies widerfuhr den Salzburgern, weshalb es binnen 77 Sekunden zweimal im Tor von Cican Stankovic einschlug. Wirklich trainieren könne man solche Situationen nicht, meint Brandauer. „Das geht bei
einem Einzelsportler wie im Tennis, aber der Fußball ist dafür zu komplex.“Aber man könne „Werkzeuge“entwickeln, um solchen Momenten bis zu einem gewissen Grad vorzubeugen. Etwa die Phase nach dem Treffer dafür zu nutzen, sich zu sammeln. „Jeder für sich oder als Team. Da können schon ein paar Sekunden genügen.“
Diese Zeit hätten die Salzburger jedenfalls zur Verfügung gehabt, denn der Jubel von Roter Stern dauerte lange genug. Stattdessen ging der Ball nach dem Ankick umgehend wieder verloren, es kam, übrigens nach einem Foul von Hannes Wolf an Jovancic, zu einem Freistoß für die Serben, die die Unordnung ausnutzten. Ein Gegentor wie das erste einfach auszublenden, ist indes absolut unmöglich. „Das kann kein Mensch, dann wären wir Maschinen“, sagt Brandauer. Salzburg hatte nach dem Ausgleich noch genügend Zeit für ein drittes Tor, exakt eine halbe Stunde. Doch derart unter Druck funktionieren die Abläufe auch nicht mehr mit der vertrauten Routine. Zudem hat der Gegner dann das Momentum auf seiner Seite, und den Belgradern gelang es, ihre Stärken, nämlich die Defensive, in der finalen Drangperiode der Salzburger voll auszuspielen.
Dass die Gegner und die serbischen Medien den Ausgeschiedenen höchsten Respekt zollten, wird angesichts der verpassten Gelegenheit zur Randnotiz. Trainer Marco Rose brachte es am Ende auf den Punkt. „Fußball ist ein Ergebnissport.“Tatsächlich gibt es wohl keine andere Sportart, in der der klar Schwächere den Stärkeren überrumpeln kann. Diesmal waren die Salzburger die Leidtragenden dieses Grundelements der Spannung im Fußball.
Die Spieler bekamen am Donnerstag frei, sodass sie etwas Abstand vom ChampionsLeague-Abschied gewinnen können. Statt der gestern ausgelosten Champions League werden heute die Gegner in der Gruppenphase der Europa League ermittelt. „Wir werden wieder zurückkommen“, sagt Sportchef Christoph Freund. Aber zunächst wartet der
Bundesliga-Alltag.