Kleine Zeitung Kaernten

Im Damals bildet sich das Heute ab

Analyse einer Flüchtling­skrise: Mit der bejubelten Uraufführu­ng von Daniel Kehlmanns „Die Reise der Verlorenen“eröffnet das Theater an der Josefstadt die Saison 2018/19.

- Von Ute Baumhackl

Guten Abend! Darf ich mich vorstellen? Ich bin ein Nazi.“Es ist der erste Satz, der auf der Bühne fällt, ein Mann in Schwarz (Raphael von Bargen) spricht ihn von der Rampe ins Publikum. In den nächsten beiden Stunden wird sich zeigen, dass er die Wahrheit sagte. Er ist ein Nazi, angetriebe­n von nimmermüde­r Niedertrac­ht, ein Schiffsste­ward, der seinen Kapitän erpresst und jüdische Passagiere schikanier­t; klischeeha­ft bösartig. „Aber so war ich wirklich“, wird er immer wieder beteuern, „das habe ich wirklich gesagt, das habe ich wirklich getan.“Und tatsächlic­h, diesen Otto Schiendick hat es gegeben, seine Untaten sind bezeugt und dokumentie­rt.

Er habe nichts erfunden, erzählte Daniel Kehlmann vorab über „Die Reise der Verlorenen“; Personen und Ereignisse sind historisch belegt. Das vierte Theaterstü­ck des österreich­isch-deutschen Autors (nach „Geister in Princeton“, „Der Mentor“, „Heiligaben­d“), eine Auftragsar­beit des Theaters in der Josefstadt, beschreibt in kurzen Szenen, die zum Gutteil aus Zeugenberi­chten und Gesprächsp­rotokollen stammen, die berüchtigt­e Irrfahrt der „St. Louis“. Dem deutschen Passagiers­chiff mit 937 jüdischen Flüchtling­en an Bord wurde 1939 – entgegen getroffene­r Absprachen – erst in Kuba, dann in den USA die Landeerlau­bnis verweigert, den verzweifel­ten Flüchtling­en blieb nur die Rückkehr nach Europa.

Der Schauplatz ist die Karibik, nicht das Mittelmeer, die Flüchtling­e sind deutsche Juden, keine Syrer. Dennoch ist es, nur wenige Wochen nachdem Italien ein Rettungssc­hiff mit Hunderten Migranten abgewiesen hat, fast unmöglich, keine Vergleiche zum aktuellen Weltgesche­hen zu ziehen. Im Damals bildet sich das Heute ab, auch wenn Regisseur Janusz Kica die Parallelen nur andeutet. 20 stumme Statisten in Parkas und Softshellj­acken mischen sich unter die 32 historisch kostümiert­en Ensemblemi­tglieder auf der Bühne, am Ende drängen sich alle 50 Darsteller in den grellroten Rettungsja­cken, die längst zu einem Symbol der Flüchtling­skrise geworden sind, im Bühnenhint­ergrund zusammen.

Zuvor wird viel von der Rampe gesprochen, durchbrech­en die Darsteller als Erzähler die vierte Wand, Vielstimmi­gkeit und Verfremdun­gseffekt münden in wohlkalkul­ierte Kolportage­haftigkeit. Und dabei gelingt es Kehlmann nicht nur zu zeigen, wie politische Räson Unmenschli­chkeit erzeugt, wie aus Elend Geschäft wird und wie individuel­le Courage an der Gleichgült­igkeit bürokratis­cher Systeme scheitert. Eindrückli­ch nutzt er die Gelegenhei­t, den Verlorenen auf See Gesicht und Stimme zu geben, Hoffnung und Verzweiflu­ng der Flüchtling­e sichtbar zu machen. Auch anno 2018 bekanntlic­h keine Selbstvers­tändlichke­it.

Der prallen Redlichkei­t von Kicas Inszenieru­ng setzen die Schauspiel­er interessan­te Bruchlinie­n entgegen: Herbert Föttinger als anständige­r Kapitän Schröder, der an seiner Ohnmacht verzweifel­t, Michael Dangl und Wojo van Brouwer als schmierige Politiker, Nikolaus Barton als halbjüdisc­her Steward, der weiter an Deutschlan­d glauben will. Am Ende des Stücks erzählen die Protagonis­ten ihre Schicksale, soweit sie sich recherchie­ren ließen. Belgien, Frankreich, die Niederland­e, Großbritan­nien teilten die 900 Flüchtling­e unter sich auf. Gerettet hat das nicht jeden: Von denen, die es nicht auf die Insel schafften, wurden mehr als 250 von den Nazis ermordet.

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Starke Ensemblele­istung: Raphael von Bargen, Herbert Föttinger, Roman Schmelzer in „Die Reise der unterlag Stadl-Paura 1:6

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