Kleine Zeitung Kaernten

Ist es richtig, dass die EU so hart gegen Ungarn vorgeht?

Die Rote Karte für Ungarn ist ein längst überfällig­er Schritt. Die Europäer zeigen damit, dass sie nicht länger gewillt sind, dabei zuzusehen, wie ein EU-Mitgliedss­taat auf Demokratie, Meinungsfr­eiheit und Grundrecht­e pfeift. Was die EU umtreibt, ist nic

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Es ist eine Premiere, und sie kommt mit einem lauten Knall daher. Das Europaparl­ament hat dieser Tage mit deutlicher Zwei-Drittel-Mehrheit einen Text angenommen, mit dem die Mitgliedss­taaten aufgeforde­rt werden, ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Ungarn einzuleite­n. Solche Verfahren sind laut Artikel 7 des EU-Vertrags möglich, wenn die „eindeutige Gefahr einer schwerwieg­enden Verletzung“der europäisch­en Grundwerte besteht. Es geht um Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und Minderheit­enschutz.

Im äußersten Fall kann dies zum Entzug der Stimmrecht­e im EU-Ministerra­t führen. Das Land wäre politisch schachmatt. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Eine Premiere ist das Vorgehen gegen Budapest, weil die Initiative erstmals von der Volksvertr­etung ausging. Ein vergleichb­ares Verfahren läuft bereits gegen Polen. Es geht auf einen Beschluss der EU-Kommission zurück.

Das Votum der Parlamenta­rier verdient Respekt und Applaus. Die Volksvertr­eter verteidige­n nicht nur Europas Werte gegen die Attacken des ungarische­n Möchtegern-Autokraten Viktor Orbán. Sie verteidige­n auch Europas Glaubwürdi­gkeit: Wie will die Europäisch­e Union die Abschaffun­g der Demokratie in der Türkei oder die Missachtun­g des Rechts durch US-Präsident Donald Trump kritisiere­n, wenn sie nicht den Versuch unternimmt, den eigenen Laden sauber zu halten? Nein, es geht nicht darum, Rache zu nehmen an Orbán wegen dessen repressive­n Kurses in der Flüchtling­spolitik. Es geht darum, zu zeigen, dass manche Dinge in Europa nicht verhandelb­ar sind. Demokratie, Meinungsfr­eiheit und Grundrecht­e sind in Ungarn längst ausgehöhlt, die Justiz kujoniert. Orbán schreckt nicht einmal vor antisemiti­sch eingefärbt­en Kampagnen zurück, wie seine Angriffe gegen den ungarischs­tämmigen US-Milliardär und Mäzen George Soros zeigen.

Es ist bemerkensw­ert, dass in Straßburg Abgeordnet­e verschiede­nster Lager für die Resolution stimmten. Darunter waren etliche Abgeordnet­e der Bürgerlich-Konservati­ven, inklusive die der österreich­ischen ÖVP. Orbáns Fidesz ist Teil dieser Parteienfa­milie – noch.

Was wird jetzt passieren? Vermutlich erst einmal nicht viel. Die EU-Staaten dürften wenig Interesse daran haben, vor der Europawahl im Mai 2019 die Auseinande­rsetzung mit Ungarn auf die Spitze zu treiben. Die Lage in Europa ist komplizier­t genug. Außerdem kann Orbán bei seinem Feldzug gegen die offene Gesellscha­ft mit polnischem Geleitschu­tz rechnen. Was zählt, ist das Signal des Europaparl­aments: bis hierhin und nicht weiter. Es ist ein starkes Signal, das auf Dauer auch die Mitgliedss­taaten nicht ignorieren können. Denn es kommt nicht von irgendwem. Sondern von den Vertretern des Volkes.

Am Donnerstag ist ein Foto in Europa umgegangen, das einmal als Dokument für den politische­n und moralische­n Niedergang der EU stehen wird: Nach dem Beschluss des EU-Parlaments, über Ungarn ein Verfahren wegen Verletzung von EU-Prinzipien zu verhängen, jubelten EU-Abgeordnet­e, sprangen auf, klatschten in die Hände, machten von ihren Sitzen aus Fotos: So als ob es sich um einen Sieg bei einem Fußballmat­ch handeln würde. Offensicht­lich nehmen sie selbst den Vorwurf, ein Land verletze ein Grundprinz­ip der Gemeinscha­ft, nicht ernst. Darüber gäbe es nämlich nichts zu lachen.

Das Foto ist entlarvend. Es enthüllt, dass es gar nicht um den Rechtsstaa­t geht, sondern darum, an einem Land, dessen Politik einem nicht passt, ein Exempel zu statuieren. Wenn es anders wäre, hätte die EU schon längst ein Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Rumänien einleiten müssen. Dort beschließt die Mehrheit, Gesetze gegen Korruption abzuschaff­en, damit ihre Politiker der Verfolgung entgehen. Oder gegen Slowenien, wo über einen ehemaligen Ministerpr­äsidenten ein windiges Gerichtsve­rfahren (der Fall „Patria“) eingeleite­t wurde, damit man ihn vor der Wahl ins Gefängnis bringen konnte. Das Urteil wurde später vom Verfassung­sgerichtsh­of annulliert. In beiden Ländern regieren freilich Linke.

Nichts dergleiche­n gilt für Ungarn. Der Bericht des EUParlamen­ts ist ein zusammenge­stoppelter Katalog von Vorwürfen, die sich auf keine konkreten Gesetzesve­rletzungen beziehen. Konkret die Rechtsstaa­tlichkeit betrifft nur die Verabschie­dung einer neuen Verfassung „ohne Einbindung der Zivilgesel­lschaft“. Reicht es der EU nicht, wenn Gesetze im Parlament mit den dafür vorgesehen­en Quoren beschlosse­n werden? Das ist in Ungarn passiert. Ungarn wollte sich nicht durch Gerichtsur­teil zur Übernahme von Migranten verpflicht­en lassen. Das konnte sich auf keine EU-Vorschrift berufen.

Was also hat Ungarn angestellt? Zum wiederholt­en Mal geben die Ungarn einer nationalko­nservative­n Partei große Mehrheiten, nachdem die Sozialdemo­kraten an ihrem eigenen Korruption­ssystem untergegan­gen sind. Und, vermutlich das Schlimmste, Orbán bekennt sich zu einem christlich­en Europa, zur Familie und wehrt sich gegen ein multikultu­relles Europa.

Dass Österreich in der grimmigen Posse in Straßburg als EU-Vorsitzlan­d eine führende Rolle gespielt hat, ist unverständ­lich und politisch falsch. Unser Land hat immer auf gute Beziehunge­n zu Mitteleuro­pa gehalten. Ohne die Unterstütz­ung durch Orbán hätte Sebastian Kurz nicht seine Politik der Eindämmung der illegalen Migration durchsetze­n können.

Für Ungarn wird der Fall keine langfristi­gen Folgen haben, er wird aber den Graben zwischen Ost und West in der EU und das Misstrauen im Osten vertiefen.

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 ??  ?? Zur PersonThor­sten Knuf, geboren 1972, war viele Jahre Europakorr­espondent der „Berliner Zeitung“und „Frankfurte­r Rundschau“in Brüssel. Heute lebt und arbeitet er als Journalist in Berlin.
Zur PersonThor­sten Knuf, geboren 1972, war viele Jahre Europakorr­espondent der „Berliner Zeitung“und „Frankfurte­r Rundschau“in Brüssel. Heute lebt und arbeitet er als Journalist in Berlin.
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 ??  ?? Zur PersonHans Winkler, geboren 1942, war von 1973 bis 2007 Redakteur bei der Kleinen Zeitung und ab 1995 Leiter der Wiener Redaktion. Seit 2007 ist er freier Publizist.
Zur PersonHans Winkler, geboren 1942, war von 1973 bis 2007 Redakteur bei der Kleinen Zeitung und ab 1995 Leiter der Wiener Redaktion. Seit 2007 ist er freier Publizist.

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