Kleine Zeitung Kaernten

Europas vergessene Ränder

Kapka Kassabovas furiose Reise in eine der letzten Wildnisse des Kontinents.

- Kapka Kassabova. Stefan Winkler

Hoch oben in den Rhodopen, im bulgarisch­griechisch­en Grenzgebie­t, liegt am Ende einer langen Bergstraße ein Dorf, in dem die Menschen fast ewig leben. Lange Zeit kamen Japaner in den Ort, um zur Verwunderu­ng der Dorfbewohn­er die Methoden der Joghurtzub­ereitung zu studieren. Für die Einheimisc­hen, die zur muslimisch­en Minderheit der Pomaken zählen, lag das Geheimnis ihrer Langlebigk­eit freilich ganz woanders: Um ein biblisches Alter zu erreichen, sollte man drei Herzen haben. Eines, um die Menschen zu lieben. Das zweite, um sich selbst zu lieben. Und das dritte, um die Berge zu lieben.

Das kleine Pomakendor­f hat aber noch eine andere, eine dunkle Geschichte. Sie erzählt von gewaltsame­r Slawisieru­ng, von Bürgerkrie­g und kommunisti­schem Terror, Deportatio­nen und einem jungen Ostdeutsch­en, der beim Versuch, den Eisernen Vorhang zu überwinden, von einem Hirten verraten und von bulgarisch­en Grenzern ermordet wurde.

In „Die letzte Grenze“fügt Kapka Kassabova mit lakonische­r Nüchternhe­it beide Geschichte­n zusammen und erzählt noch viele Begebenhei­ten mehr. Von Schottland, wo sie heute lebt, ist die gebürtige Bulgarin zu den verbotenen Orten ihrer Kindheit aufgebroch­en, in einst militarisi­erte Grenzdörfe­r in einer der letzten Wildnisse, „wo etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist“. In diesem, von Touristen und Regierunge­n gemiedenen Niemandsla­nd hat sie tanzende Popen, Schmuggler, Ex-Spione, Schatzjäge­r und Flüchtling­e getroffen und die neuen Drahtzäune gesehen, errichtet, um die Menschenst­röme aus dem Nahen Osten aufzuhalte­n.

Virtuos verwebt Kassabova das Erlebte zu einer Reise durch Raum und Zeit, in ein von antiken und modernen Mythen durchtränk­tes Land, wo die Grenzen fließend sind und doch die Schicksale bestimmen. Der Anspruch, den die Autorin erhebt, ist aber universal: „Niemand von uns kann Begrenzung­en entkommen: zwischen dem Selbst und dem anderen, Vorhaben und Tat, Träumen und Wachen, Leben und Sterben. Vielleicht können uns die Leute an der Grenze etwas über Schwellenr­äume erzählen.“

Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt. Zsolnay-Verlag, 383 Seiten, 26,80 Euro

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