Europas vergessene Ränder
Kapka Kassabovas furiose Reise in eine der letzten Wildnisse des Kontinents.
Hoch oben in den Rhodopen, im bulgarischgriechischen Grenzgebiet, liegt am Ende einer langen Bergstraße ein Dorf, in dem die Menschen fast ewig leben. Lange Zeit kamen Japaner in den Ort, um zur Verwunderung der Dorfbewohner die Methoden der Joghurtzubereitung zu studieren. Für die Einheimischen, die zur muslimischen Minderheit der Pomaken zählen, lag das Geheimnis ihrer Langlebigkeit freilich ganz woanders: Um ein biblisches Alter zu erreichen, sollte man drei Herzen haben. Eines, um die Menschen zu lieben. Das zweite, um sich selbst zu lieben. Und das dritte, um die Berge zu lieben.
Das kleine Pomakendorf hat aber noch eine andere, eine dunkle Geschichte. Sie erzählt von gewaltsamer Slawisierung, von Bürgerkrieg und kommunistischem Terror, Deportationen und einem jungen Ostdeutschen, der beim Versuch, den Eisernen Vorhang zu überwinden, von einem Hirten verraten und von bulgarischen Grenzern ermordet wurde.
In „Die letzte Grenze“fügt Kapka Kassabova mit lakonischer Nüchternheit beide Geschichten zusammen und erzählt noch viele Begebenheiten mehr. Von Schottland, wo sie heute lebt, ist die gebürtige Bulgarin zu den verbotenen Orten ihrer Kindheit aufgebrochen, in einst militarisierte Grenzdörfer in einer der letzten Wildnisse, „wo etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist“. In diesem, von Touristen und Regierungen gemiedenen Niemandsland hat sie tanzende Popen, Schmuggler, Ex-Spione, Schatzjäger und Flüchtlinge getroffen und die neuen Drahtzäune gesehen, errichtet, um die Menschenströme aus dem Nahen Osten aufzuhalten.
Virtuos verwebt Kassabova das Erlebte zu einer Reise durch Raum und Zeit, in ein von antiken und modernen Mythen durchtränktes Land, wo die Grenzen fließend sind und doch die Schicksale bestimmen. Der Anspruch, den die Autorin erhebt, ist aber universal: „Niemand von uns kann Begrenzungen entkommen: zwischen dem Selbst und dem anderen, Vorhaben und Tat, Träumen und Wachen, Leben und Sterben. Vielleicht können uns die Leute an der Grenze etwas über Schwellenräume erzählen.“
Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt. Zsolnay-Verlag, 383 Seiten, 26,80 Euro