Unerträgliche Opferrolle
Die FPÖ tut sich schwer, sich von ewiggestrigen Kreisen zu trennen. Sonst würde sie sich in der Causa Keyl nicht in der unerträglichen Opferrolle gefallen.
Der Rückzug kam dann doch überraschend. Um dem informell angedrohten Veto des Bundespräsidenten zuvorzukommen, gab Hubert Keyl klein bei und zog seine Bewerbung als freiheitlicher Kandidat für eine Richterstelle am Verwaltungsgericht zurück. Dem Schritt gingen stundenlange Telefonate voraus. Van der Bellen ist es hoch anzurechnen, dass er dem umstrittenen Bewerber die Möglichkeit eines gesichtswahrenden Rückzugs eingeräumt hat. Der Ex-Grünenchef hätte Keyl auch genüsslich auflaufen lassen und das Veto als großes mediales Spektakel inszenieren können. Der Applaus breitester Kreise wäre dem Bundespräsidenten gewiss gewesen. Lang wäre die Liste jener politischen Aussendungen gewesen, die ihm „Haltung“konzediert hätten. Van der Bellen verzichtete auf die billigen Punkte.
Keyls unerträglicher Leserbrief über den von Nazis hingerichteten Wehrmachtsdeserteur Franz Jägerstätter ist kein Ausrutscher, sondern widerspiegelt eine Geisteshaltung, die den Grundkonsens der Zweiten Republik mit Füßen tritt. Jägerstätter verweigerte den Kriegsdienst, weil er das Dritte Reich als Unrechtsregime empfand. Mit dem Wissen der Spätgeborenen Jägerstätter den Vorwurf zu machen, dass er in der Hochphase der Barbarei seinen soldatischen Verpflichtungen nicht nachkam, zeugt von einer besonderen intellektuellen Dürftigkeit. Solche geistige Verirrungen haben mehr als 70 Jahre nach Kriegsende in einer modernen Demokratie keinen Platz.
Bei jeder Gelegenheit beharren die Freiheitlichen darauf, dass sich Zuwanderer an die kulturell verfestigten Spielregeln in unserem Land zu halten haben. Fördern Umfragen in Migrantenkreisen diktatorische Tendenzen zutage, sind es die Freiheitlichen, die als Erste auf die Barrikaden steigen. Zu den Spielregeln gehört die Bekämpfung jeglicher antidemokratischer Tendenzen – und somit auch die klare Abgrenzung zur Barbarei in der NS-Zeit.
Ein Richter legt einen Eid auf die Republik ab. Die Zweite Republik wurde als Gegenentwurf zum dunkelsten Kapitel unserer Geschichte konzipiert. Jemand, der mit der voraufklärerischen NS-Zeit sympathisiert, ist als Richter nicht tragbar. icht minder unerträglich ist die Opferrolle, die Teile der FPÖ einnehmen. Wer der Öffentlichkeit einen Meinungs- und Tugendterror vorwirft, betreibt eine widerliche Täter-Opfer-Umkehr. Keyl mag ein „rechtschaffener und unbescholtenere Staatsbürger“sein, wie FPÖ-Generalsekretär Hafenecker gestern larmoyant anführte, nur ist das nicht das Thema. Mit so kruden Ansichten hat sich Keyl als Richter, der im Namen der Republik Recht spricht, disqualifiziert.
Das Beschwören des Opfermythos raubt der FPÖ die Möglichkeit, sich ohne Ambivalenz von zweifelhaftem Gedankengut zu distanzieren. Und es ist ein weiterer Beleg dafür, wie schwer sie sich tut, sich von ewiggestrigen Kreisen, von denen die Partei durchsetzt ist, ein für alle Mal zu trennen.
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