Sein Plan B
Nach einem Verwirrspiel um seinen Rücktritt kündigt Christian Kern seine Kandidatur im EU-Wahlkampf an. Die SPÖ wusste von den Plänen ihres Chefs nichts. Bis Jahresende will sie einen Nachfolger finden.
Der Zeitpunkt kam völlig überraschend. Einer der ranghöchsten SPÖ-Spitzenpolitiker konferierte gerade mit seinen Parteifreunden, als ihn um die Mittagszeit ein SMS ereilte. „Wie von der Tarantel gestochen stand er auf und verließ fluchtartig den Raum“, schilderte ein Augenzeuge die Szene. „Kern geht ab“, raunte er zu seinem Mitarbeiter, „ich muss nach Wien“, bestieg das Auto und brauste davon.
Bald danach machte in Wiener Journalistenkreisen das Gerücht die Runde, Christian Kern werde bei einem vor Monaten mit den Landesparteichefs fixierten Abendessen in einem Wiener Lokal den Rückzug von der Parteispitze verkünden. Ein ehemaliges Mitglied der KernRegierung erfuhr die Kunde aus den Medien. „Mir ist das völlig schleierhaft“, gab er sich verwundert. „Wir haben ihn doch erst letzte Woche im Präsidium für den Parteitag nominiert.“ Am 6. Oktober sollte Kern als Parteichef in Wels wiedergewählt werden. Seit gestern Abend ist völlig unklar, ob der Parteitag überhaupt stattfindet, geschweige denn, wer überhaupt zum Parteichef gewählt wird.
„Gelinde gesagt baff“zeigte sich Kärntens SPÖ-Vorsitzender und Landeshauptmann Peter Kaiser am Nachmittag. Bis 16 Uhr hatte Kaiser keine verbriefte Information über Kerns Pläne. Kaiser, der maßgeblicher Königsmacher von Kern war, hatte gegen Mittag aus dem Parlament die Gerüchte vernommen, dass Kern am Abend seinen Rücktritt bekannt geben werde. Danach führte Kaiser Dutzende Telefonate mit hochrangigen SPÖ-Politikern. Allein, Christian Kern bekam er nicht zu einem ausführlichen Gespräch ans Telefon.
So konnte Kaiser am Nachmittag nur spekulieren, dass die Gründe für einen möglichen Rücktritt Kerns „im höchst privaten, persönlichen Bereich“liegen dürften. Denn politische Gründe für einen Kern-Rücktritt gebe es keine, so Kaiser. „Im Gegenteil, er wird in der Partei gemocht“, verwies der Kärntner SPÖ-Chef auf das „Familienfest“seiner Partei am Wochenende, wo die über 1000 Teilnehmer „Kern wie einen Superstar herumgereicht haben“.
Vor 18 Uhr versammelten sich Journalisten, Fotografen, Kameraleute vor der Parteizentrale in der Löwelstraße. Bis zu dem
Zeitpunkt waren alle nur auf informelle Informationen, die man unter dem Mantel der strengsten Verschwiegenheit aus roten Insiderkreisen erhalten hatte, angewiesen gewesen. Eine offizielle Bestätigung, eine Aussendung, ein offizielles Statement fehlten.
Dann trat Kern vor die Medien – und dem Vernehmen nach überraschte er auch so manchen SPÖ-Landesparteichef und Gewerkschafter, die sich im Geheimen im RennerInstitut im 12. Bezirk getroffen hatten: Kern kündigte seine Kandidatur für die EU-Wahl im Mai an, anschließend werde er von der Parteispitze abtreten.
„Das ist eine Auseinandersetzung, die ich nicht als die Mutter aller Schlachten bezeichnen würde“, lieferte er als Erklärung nach „aber es ist eine besonders wichtige Auseinandersetzung, weil das Konzept einer liberalen, weltoffenen Demokratie massiv herausgefordert wird, von den Orbáns, Kaczyn´skis, Straches, Salvinis. Hier agieren Menschen, die die Abrissbirne gegen Europa einsetzen.“
Nachfragen waren keine erlaubt, die Journalisten blieben verdutzt zurück. Im ORF-Sommergespräch hatte Kern Spekulationen über einen Wechsel nach Brüssel noch als „Mumpitz“bezeichnet. Warum der plötzliche Sinneswandel, warum er ohne Not die Partei so überrumple, wer ihm nachfolgen solle, ob eine europaweite Spitzenkandidatur tatsächlich in Vorbereitung sei? Kern verließ fluchtartig die Parteizentrale, sprang ins Auto und kurvte davon. Nach einem Masterplan sah alles, was sich gestern abgespielt hat, nicht aus.
Kaiser war der erste SPÖ-Grande, der Kern in diesem Bestreben unterstützte – und blieb lange der Einzige. Im Laufe des Abends stellten sich schließlich auch die anderen Landesparteichefs hinter den Kern-Plan. Fixiert wurde, dass noch im heurigen Jahr, nicht erst im Mai 2019, wie von Kern gewünscht, die Nachfolge fixiert wird. Kaiser ließ – als erster und einziger möglicher Nachfolge – am Nachmittag vermelden, dass er als Kern-Nachfolger nicht infrage komme. „Als Bundesparteichef eine Fernbeziehung mit der Partei zu führen, das geht nicht“, so Kaiser.
Dass Kern nicht bis zum Ende die Legislaturperiode durchdienen würde, darüber waren sich Insider und politische Beobachter spätestens seit der Wahlschlappe einig. Kern wechselte von der Wirtschaft in die Politik, um Kanzler zu werden, die harte Oppositionsbank war nicht Teil seiner Karriereplanung. Dass er von einem 31-jährigen Jungpolitiker, der weder über eine vergleichbare Lebensnoch Berufserfahrung verfügte, aus dem Kanzleramt geworfen wurde, schien er nie verwunden zu haben.