Kern geht hohes Risiko ein
Wenn Christian Kern bei seinen europäischen Ambitionen Pech hat, zieht er als einfacher Abgeordneter ins EU-Parlament ein. Für fünf lange Jahre.
Schick den Opa nach Europa“, lautete noch das Motto in den Achtzigern. Damals wurden abgehalfterte Politiker nach Brüssel oder Straßburg weggelobt, um sich bis zur Pensionierung finanziell über Wasser zu halten. In Verkennung des europäischen Machtgefüges war das bei den Deutschen eine beliebte Praxis. Briten und Franzosen waren schlauer und dachten immer schon strategischer.
Das hat sich glücklicherweise geändert, auch in Österreich. Susanne Riess, Maria Berger, Jörg Leichtfried, Andrä Rupprechter, Elisabeth Köstinger begannen ihre Karriere in Europa und stiegen zu Ministern auf. Auch in der Verwaltung sitzen Leute, die wissen, wie die EU tickt. Nur so kann Österreich seinen Interessen zum Durchbruch verhelfen. Ein rotziges, flapsiges Gehabe garantiert Schlagzeilen, keinen Erfolg.
Nun will Christian Kern nach Europa wechseln. Die Geschichte der turbulenten Stunden von Dienstag muss erst geschrieben werden. Noch liegen nicht alle Details vor, um den einmaligen Alleingang, die Brüskierung der SPÖ-Granden nachzuzeichnen. Dass der Wechsel nach Europa nicht seiner Karriereplanung entsprang, ist bekannt. Die Kandidatur ist aus der Not geboren und die Folge eines innenpolitischen, innerparteilichen Scheiterns.
Dass sich Kern für Europa aufopfert, ist ihm hoch anzurechnen und verdient keine Häme. Europa ist zu wichtig, um der zweiten Garnitur überlassen zu werden. Kern bringt intellektuell, politisch, argumentativ das Rüstzeug mit, um in die Schlacht zu ziehen. Man mag nicht alle Überzeugungen teilen, die Migrationsfrage auf die soziale Frage zurückzuführen, ist eine unlautere Verkürzung. Kern weiß, was im österreichischen Interesse in Europa auf dem Spiel steht.
Man kann nur hoffen, dass sich Kern sein europäisches Abenteuer durchüberlegt hat. Die Chancen stehen gut, dass sich die krisengeschüttelten EU-Sozialdemokraten auf einen Ex-Regierungschef verständigen. Garantie gibt es keine. In dem überaus komplexen europäischen Geflecht entscheidet nicht immer die Qualität oder die Logik, sondern oft die Arithmetik oder der faule S Kompromiss. elbst wenn Kern als europäischer Spitzenkandidat in die EU-Wahl geht, ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Fallen die Sozialdemokraten auf Platz drei zurück, ist denkbar, dass sich Volkspartei und Liberale alle drei spannenden EU-Jobs (Kommission, Rat, Außenbeauftragte) untereinander ausmachen. Noch dazu, wenn die Sozialdemokraten über keine Fürsprecher im Rat der Staats- und Regierungschefs verfügen, derzeit gehören nur fünf der 28 EU-Chefs der roten Parteienfamilie an.
Dann bliebe Kern nur noch der Einzug ins EU-Parlament als einfacher Abgeordneter, vielleicht als Fraktionsvorsitzender, als Chef eines Parlamentsausschusses, als einer von Dutzend Vizepräsidenten – für fünf Jahre. Wir werden sehen, ob Kern alles bis zum bitteren Ende durchgedacht hat.