Labour-Chef Corbyn rüstet seine Partei für mögliche Neuwahl.
Der Brexit ist das zentrale Thema auf dem Parteitag in Liverpool: Stimmen die Sozialisten in den Ruf nach einem neuen Referendum ein?
Als „echte Alternative“zu Theresa Mays Konservativen will sich die britische Linke auf ihrem Parteitag diese Woche in Liverpool präsentieren. Die Labour Party hat für Britannien Großes im Sinn.
Sie will Eisenbahnen, Wasserwerke und Post wieder verstaatlichen, die Arbeiterrechte stärken, genossenschaftliche Formen der Produktion einführen, Niedriglöhne erhöhen und in die Infrastruktur investieren.
Eine Ummodelung der Gesellschaft, wie sie die Insel seit der Nachkriegszeit nicht sah, schwebt Vorsitzendem Jeremy Corbyn vor. Der Altlinke drängt auf die Absegnung seiner Pläne, weil er in diesen unruhigen Herbsttagen einen Kollaps der May-Regierung für möglich hält.
Denn im Brexit-Chaos hat sich die Premierministerin in eine Sackgasse verrannt. In ihrer eigenen Partei, deren Jahreskongress nächste Woche stattfindet, ist sie unter Druck geraten. Ihre Minderheitsregierung, die sich auf Nordirlands Unionisten stützt, wackelt. Mehrere Minister denken an Rebellion, und plötzliche Neuwahlen sind nicht auszuschließen. So berichtete die Sunday Times am Wochenende, May habe ihre Berater angewiesen, einen Notfallplan für vorgezogene Wahlen im November auszuarbeiten. Damit will sich die angezählte Regierungschefin offen- bar bei den Briten ein Mandat für ihren Brexit-Kurs holen.
desolaten Lage der Konservativen müsste Labour eigentlich gute Chancen haben. Schon bei der Wahl im Vorjahr kam Corbyns AntiEstablishment-Programm bei den Briten überraschend gut an.
Und doch liegt die Partei in Umfragen bestenfalls Kopf an Kopf mit den Tories. Allein schon ihre Unfähigkeit, sich vom hartnäckigen Vorwurf des Antisemitismus zu befreien, hat den Sommer überschattet.
Das Thema, das Labour aber am meisten zu schaffen macht, ist das gleiche, das Mays Partei zerrüttet hat – der Brexit. Nur die Fronten verlaufen anders. An der Seite pro-europäischer Fraktionsmitglieder, die den
Brexit umkehren wollen, steht mittlerweile eine Mehrheit junger Aktivisten und CorbynFans, die den Austritt als Bedrohung ihrer Zukunft sehen. Corbyn und seine engsten Vertrauten wollen dagegen aus taktischen und ideologischen Gründen am EU-Austritt nicht rütteln. Vor Kurzem noch sagte der Parteichef, die Entscheidung sei ein für alle Mal gefallen.
In der Partei aber hat der Widerstand gegen den Brexit in dem Maße zugenommen, in dem die möglichen Konsequenzen eines Bruchs mit der EU deutlicher geworden sind. Einer am Sonntag veröffentlichten Umfrage des YouGov-Instituts zufolge verlangen inzwischen 86 Prozent aller Labour-Mitglieder zum Ausgang der Brexit-Verhandlungen einen neuen Volksentscheid, ein „people’s vote“.
Rund 90 Prozent würden bei einem solchen zweiten Referendum für den Verbleib in der EU stimmen. 140 Wahlkreis-Verbände haben Eingaben zum Parteitag für eine entsprechende Resolution gemacht. Die entscheidende Debatte soll am morgigen Dienstag stattfinden. Vize-Parteichef Tom Watson hat den Referendumsbefürwortern Unterstützung zugesagt.
Er selbst rufe nicht nach einem neuen Volksentscheid, sagte Corbyn dem „Sunday Mirror“. Falls der Parteitag aber anders entscheide, werde er sich dessen Willen „nicht verschließen“.