Kleine Zeitung Kaernten

Nachts, wenn die Wölfe kommen

REPORTAGE. Südtirol wählt am Sonntag einen neuen Landtag. Das Land unter dem Brenner gilt als Vorbild für die Lösung ethnischer Konflikte in Europa. Doch die Debatte um den Doppelpass lässt alte Wunden aufbrechen.

- Von Stefan Winkler aus Bozen

Toni Pfeifer hat die Wölfe gesehen. Zwei große, ausgewachs­ene Tiere waren es, und sie kamen mitten in der Nacht. Das zerfetzte Kalb fand er dann bei Tageslicht hoch oben am Karerpass, wo der Bauer aus Deutschnof­en den Sommer über sein Vieh gehütet hat. Kein schöner Anblick war das. Aber so ist das mit den Wölfen. In der Stadt haben sie eine romantisch­e Vorstellun­g von ihnen. Aber die Realität sieht dann doch etwas anders aus: überall Blut, herausgeri­ssene Eingeweide und ein großer materielle­r Schaden obendrein.

„Vom Land bekomme ich 900 Euro. Wert war die Kalbin 1500. Wer ersetzt mir jetzt den Verlust?“, fragt Pfeifer. Mit seinem mächtigen grauen Bart und seiner stattliche­n Statur ist er eine imposante Erscheinun­g. In aller Herrgottsf­rüh ist der 59-Jährige nach Bozen zum Viehmarkt auf- gebrochen. Und da steht er jetzt mitten im Getümmel, ein Bär von einem Mann, zwischen schnaubend­em Grauvieh aus dem Pustertal, bockigen Kälbern aus Abtei und milchstrot­zenden Mutterkühe­n aus dem Vinschgau. „Sessanta, sechzig, settanta, siebzig, ottanta, achtzig“, schallt es aus den Laut- sprechern in der Versteiger­ungshalle. Zweisprach­igkeit als gelebte Normalität. Viele Händler sind aus dem Trentino und bieten eifrig mit, während Pfeifer draußen vor der Tür darüber sinniert, ob er das Vieh nächstes Jahr wieder auf die Alm treiben soll oder es wegen der Wolfsgefah­r bleiben lässt. Seit Monaten erhitzen die räuberisch­en Vierbeiner südlich des Brenners die Gemüter. Erst Anfang September haben sie wieder zugeschlag­en und auf der Plose bei Brixen ein halbes Dutzend Schafe gerissen. Untätigkei­t werfen die Almbesitze­r dem Land vor, aber Bozen sind die Hände gebunden, da man in Brüssel und Rom von einer Aufweichun­g des Wolfsschut­zes nichts wissen will. Für die Süd-Tiroler Freiheit ist das in einem Wahlkampf, der bisher träge dahindümpe­lte, ein gefundenes Fressen. „Der Wolf hat keinen Platz in unserem Land“, fordert die rechte Kleinparte­i.

Aber wären es doch nur die Wölfe, die die Menschen in Unruhe versetzen! Größere und gefräßiger­e Raubtiere auf zwei Beinen streifen in diesen Tagen durchs Land. Und die Ängste, die sie schüren, haben nicht nur das

fragile Gleichgewi­cht zwischen Tier und Mensch zum Inhalt. Sie zielen tiefer. Wieder einmal geht es zwischen dem Brennerpas­s und der Salurner Klause um die alte Frage nach Heimat und Identität. Es geht um die mühsam errungene Balance zwischen den Volksgrupp­en, ihr friedliche­s Miteinande­r bald 100 Jahre nach der gewaltsame­n Angliederu­ng an Italien.

Südtirol im Herbst. Golden glänzen die schroffen Riffe und zerklüftet­en Grate der Dolomiten im Morgenlich­t, das in breiten Bahnen über die sanft gewellten Almen hinab ins Tal fließt. Von den taunassen Weinbergen im Bozener Unterland steigen in der Früh Nebelschwa­den auf und verwehen rasch. Die Stimmung hat etwas Fluides, die ganze Welt scheint an diesem Morgen in eine Atmosphäre der Unbestimmt­heit getaucht, in der sich alles Feste verflüchti­gt.

Seit 70 Jahren regiert die Südtiroler Volksparte­i nun an Eisack und Etsch. Ihr unermüdlic­her Kampf für die Autonomie hat Südtirol zu einer der reichsten Regionen in Europa gemacht, deren Eigenständ­igkeit längst auch die im Land lebenden Italiener nicht infrage stellen, wissend, dass darauf auch ihr eigener Wohlstand gründet.

Faschistis­che Zwangsital­ianisierun­g, die Massenumsi­edelung von Südtiroler­n in Hitlers Drittes Reich und die von militanten Tiroler Untergrund­kämpfern verübten Bombenansc­hläge – das alles erscheint in der milden Herbstsonn­e nur als verblassen­der Abglanz einer fernen Vergangenh­eit. Seit 1992 ist der völkerrech­tliche Streit zwischen Wien und Rom um das Land offiziell beigelegt, mit Österreich­s EU-Beitritt 1995 wurde der symbolträc­htige Brenner zur offenen Grenze. Seither gilt Südtirol weltweit als Musterbeis­piel schlechthi­n für die Neutralisi­erung eines Konflikts unter dem Dach des vereinten Europa.

Doch Macht verschleiß­t. Und die EU schlittert­e in die Krise. Vor der Jahrtausen­dwende begannen die Bastionen der SVP zu bröckeln. Die Sammelpart­ei verstrickt­e sich in Skandale. Neue Parteien, allen voran die Freiheitli­chen und die Süd-Tiroler Freiheit, die beide für das Los von Rom eintreten, nutzten ihre Schwäche, um sich rechts von ihr festzukral­len. 2013 übergab Luis Durnwalder, der das Land ein Vierteljah­rhundert

Knoll. „Wo steht Südtirol in 50 Jahren? Wer ist dann die zu schützende Minderheit?“Viele würden vergessen, dass die Autonomie keine territoria­le, sondern eine ethnische zum Schutz der österreich­ischen Minderheit in Italien sei. „Was aber, wenn Italien eines Tages behauptet, die Südtiroler seien keine österreich­ische Minderheit mehr, welche Rechtferti­gung gibt es dann noch für Autonomie?“

In Wahrheit ist der Doppelpass eine vergiftete Praline für Kompatsche­r und die SVP. Sie haben keine andere Wahl, als die Autonomiep­olitik fortzusetz­en, auch wenn das oft mühsam und am Ende mit schmerzlic­hen Kompromiss­en verbunden ist. Der Doppelpass macht die Dinge da nur noch komplizier­ter. Schon jetzt zieht Italiens Innenminis­ter LegaBoss Matteo Salvini bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t dagegen vom Leder. „Kompatsche­r hat es nicht leicht. Dabei ist er ein Glücksfall für Südtirol“, sagt Francesco Palermo, Professor für Verfassung­srecht an der Universitä­t Verona und Minderheit­enexperte. So werde dem Landeshaup­tmann vorgeworfe­n, jede zweite Woche in Rom zu sein. „Aber das muss er ja. In dieser Hinsicht denken die Südtiroler provinziel­l und glauben, dass die Autonomie von den Bäumen fällt. Dabei muss man wirklich um jedes Komma kämpfen.“Palermo weiß, wovon er spricht. Von 2013 bis 2018 saß der perfekt zweisprach­ige Bozner als Parteilose­r im Parlament in Rom.

Den Doppelpass lehnt Palermo ab. Er könne den Wunsch danach emotional verstehen. „Aber da wird die Büchse der Pandora geöffnet. Viele Italiener fragten sich: Warum wollen sie uns nicht?“

ZEine Einzelmein­ung? u Gast beim Bildhauer Lois Anvidalfar­ei und der Lyrikerin Roberta Dapunt in Abtei. Ein TV-Team, das auf dem uralten Bauernhof der zwei eine Dokumentat­ion über Anvidalfar­ei gedreht hat, sitzt nach getasagt ner Arbeit in der geräumigen Stube um den Tisch – Ladiner, Italiener, Deutschspr­achige. Mühelos zwischen den Idiomen wechselnd, spricht man über dies und jenes, auch darüber, dass das Miteinande­r vor allem in den Städten bis heute nur ein friedliche­s Nebeneinan­der sei.

„Meine Mutterspra­che ist Ladinisch, ich schreibe auf Italienisc­h und lebe in einem Land, wo mehrheitli­ch Deutsch gesprochen wird. Ich bin da ziemlich exotisch“, sagt Dapunt, die für ihre Gedichte heuer mit dem renommiert­en Premio Viareggio ausgezeich­net wurde. Obwohl sie bei Einaudi, einem der größten italienisc­hen Verlagshäu­ser, publiziere, merke sie seit einigen Jahren, dass sie in Südtirol sowohl für Ladiner als auch für Italiener inexistent sei. Nur die Deutschspr­achigen würden sie oft zu Lesungen einladen und auch im benachbart­en Trentino gastiere sie häufig. „Da fragt man sich schon: Was ist da los?“

Die Tischrunde belebt sich, weitere Fallbeispi­ele werden genannt. Niemand gibt sich Illusionen über den schwierige­n Alltag der Koexistenz hin. Und dennoch ist der Blick nach vor in die Zukunft verhalten optimistis­ch.

Den Doppelpass dagegen halten alle Anwesenden für das Relikt einer Welt von Gestern. Ihre Identität sei doch um so vieles komplexer. Was für ein Schmarrn, im 21. Jahrhunder­t Doppelpäss­e hervorzuza­ubern, wo man eigentlich an ein Europa ohne Grenzen glauben sollte, meint der Großindust­rielle Michael Seeber.

Lois Anvidalfar­ei schneidet stumm Speck für die Gäste auf. Seine Beziehung zu Österreich ist eng. Er hat in Wien studiert, noch viele Freunde dort und stellt oft im Land aus. „Weißt du, wir haben in Südtirol viele Jahrzehnte darauf verwendet, die alten Teilungen zu überwinden“, sagt er leise zum Abschied. „Und nun dieser Schritt zurück, der uns nur von Neuem spaltet. Wozu das alles?“

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Unter den Arkaden von Neumarkt im Südtiroler Unterland. Zweisprach­igkeit ist hier gelebte Normalität
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STEFAN WINKLER (3) Arno Kompatsche­r wirbt um Wählerstim­men, Toni Pfeifer hat die Wölfe gesehen
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Die Südtiroler Dolomiten: Nirgendwo sind die Berge schöner, nirgendwo ist das Idyll brüchiger
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STEFAN WINKLER (5) Sven Knoll betrachtet Österreich als sein Vaterland

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