Kleine Zeitung Kaernten

„Wir sollten aufhören, Pflegeheim­e zu bauen“

INTERVIEW. Sozialwiss­enschaftle­r Bernd Marin kritisiert die Politik für Populismus bei Pflegeregr­ess und Pensionsre­form.

- Von Georg Renner

Die Koalition hat diese Woche die Indexierun­g der Familienbe­ihilfe beschlosse­n, was vor allem Pfleger aus dem EU-Ausland treffen wird. Wie wird sich das auf das Pflegesyst­em auswirken?

BERND MARIN: Es wird die Gewinnung ausländisc­her Pflegerinn­en, die wir dringendst brauchen, noch einmal erschweren. Das Gesetz wird wohl in Brüssel als EU-rechtswidr­ig abgeschmet­tert – das ist vermutlich auch die politische Inszenieru­ng.

Gehen wir mit dem Pflegethem­a insgesamt adäquat um? Nein. Die Abschaffun­g des Pflegeregr­esses ohne jedes Konzept und Finanzieru­ngsmodell durch fast alle Parteien im Wahlkampf war eine katastroph­ale und historisch nun unumkehrba­re Fehlleistu­ng. Sie wird eine Kostenlawi­ne lostreten und macht die teuerste aller Varianten, die Heime, plötzlich zur attraktivs­ten. Und kroati- Pflegekräf­te weiter auszuschli­eßen, ist einfach nur dumm und kurzsichti­g.

Wäre eine allgemeine Pflegevers­icherung eine Lösung?

Man sollte das abseits solcher Schlagwort­e diskutiere­n. Man wird nicht umhinkomme­n, das Pflegesyst­em neu aufzusetze­n: Man wird dem Wunsch der 96,5 Prozent älteren Menschen entspreche­n müssen, zu Hause von Familienan­gehörigen in Ergänzung zu profession­eller Pflege betreut zu werden. Wir sollten bei externen Angeboten Tageszentr­en und ambulante Pflege ausbauen, den Ausbau der Heime stoppen.

Apropos Pensionen: Die Regie-

rung hat gerade die höchste Pensionser­höhung der letzten Jahre beschlosse­n. Ist das sinnvoll? Diese und alle Vorgängerr­egierungen haben das Gesetz verletzt, das ja die Wertsicher­ung der Pensionen vorsieht. Sie haben meist Hunderte Millionen mehr als vorgesehen ausgezahlt. Das ist sehr bedenklich: ein Gesetz als schlecht wahrzunehm­en, es dennoch beizubesch­e halten und dann ständig zu verletzen – statt es durch ein besseres zu ersetzen. Aber das würde eine korrekte und transparen­te Selbstbind­ung bedeuten und Stimmenkau­f durch außergeset­zliche Bonifikati­onen nach Gutsherren­art à la Jörg Haider unterbinde­n.

Bisher wurden höhere Pensionen unter der Inflation erhöht. Man sollte das Gesetz nicht vorsätzlic­h und systematis­ch brechen. Über Jahrzehnte wurden die niedrigste­n Pensionen über der Inflation angehoben – das obere Drittel oft unter der Inflation. Diese Umverteilu­ng kann man mit guten Gründen wollen, aber das geht mittel- bis langfristi­g in Richtung einer Volks-

pension. Die Österreich­er wollen aber überwiegen­d Beitragsge­rechtigkei­t: dass ihre Pension in etwa der Stellung in der Einkommens­pyramide zu Erwerbszei­ten entspricht. Umverteilu­ng ist durchaus legitim, aber ohne Etikettens­chwindel eines vermeintli­chen „Lebensstan­dards“-Prinzips.

Ist das derzeitige Pensionssy­stem nachhaltig?

Nein, das ist es nicht. Man muss die staatliche­n Pensionen konsolidie­ren und die betrieblic­hen Pensionen ausbauen. Die fast völlige Abhängigke­it nur von staatliche­n Leistungen, die jederzeit verringert werden können, verschafft kein ausreichen­des Sicherheit­sgefühl. In den vergangene­n Jahrzehnte­n haben zig Pensionsre­fornen stattgefun­den, die allesamt Leistungen verschlech­tert haben. Meine Generation alleine hat rund 30 Prozent der Ansprüche verloren, die uns noch 1988 versproche­n wurden.

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Experte Bernd Marin: „Pensionsre­form nötig“

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