Kleine Zeitung Kaernten

Österreich ist frei! Staatsvert­rag, Aufbruch und Versteiner­ung – die 50er-Jahre.

Die 50er-Jahre bescherten Österreich nach zehn Jahren der Besetzung durch die Alliierten wieder die Freiheit. Die Ungarnkris­e als Bewährungs­probe bestand die Republik. Aber darauf folgte die Erschöpfun­g und Erstarrung des Systems.

- Von Manfried Rauchenste­iner

Zu Neujahr 1950 konnte man ein wenig trübsinnig werden. Nichts schien in Österreich weiterzuge­hen. Noch klangen die Worte Leopold Figls aus dessen Weihnachts­ansprache 1945 nach: „Glaubt an dieses Österreich!“Doch was hatte sich schon groß geändert? War das, was man erlebte, nicht in erster Linie eine Rekonstruk­tion des Gewesenen? Ließ sich schon sagen, Österreich sei nicht mehr fremdbesti­mmt und habe die Chance auf einen zweiten Neubeginn genutzt? Gab es mehr als Träume?

Anfang 1950 musste man sich abermals sagen, dass die Bemühungen um die Finalisier­ung eines Staatsvert­rags gescheiter­t waren. Wieder war man um eine Hoffnung ärmer geworden. Und es gab noch anderes, das zu Sorge Anlass gab. Spionagefu­rcht grassierte. Im Juni 1950 überfielen nordkorean­ische Streitkräf­te den Süden. Der Koreakrieg nahm seinen Anfang, von dem viele glaubten, der eigentlich­e große Krieg würde in Europa stattfinde­n. Plötzlich grassierte die Angst vor einem Weltkrieg. Würde Österreich Schauplatz werden?

Die USA reagierten auf die veränderte Situation mit einer Reduktion ihrer Hilfsliefe­rungen. Das hatte Auswirkung­en. In Österreich durften Gelder aus dem Marshallpl­an nicht mehr zur Stützung von Grundnahru­ngsmitteln verwendet werden. Die Versuche, für die Teuerung einen Ausgleich zu schaffen, blieben hinter den Erwartunge­n zurück. Im September gab es einen Generalstr­eik. Da er von den österreich­ischen Kommuniste­n dazu genutzt wurde, sich wieder besser zu positionie­ren, schrillten bei den Parteien der Großen Koalition, ÖVP und SPÖ, die Alarmglock­en. Interessan­terweise schrillten sie auch in Moskau, wo man keine Unruhen haben wollte. Das Ergebnis war, dass ein Versuch, den Streik auszuweite­n, am 4. Oktober fehlschlug. Die Kommuniste­n blieben allein. Tags darauf herrschte wieder Ruhe.

Die Nachwirkun­gen waren freilich noch lange zu spüren. Amerikanis­che Stellen begannen die Spitze der Großen Koalition auf eine Katastroph­enplanung einzuschwö­ren. Sollte es zum großen Krieg kommen, sollten möglichst viele kriegsgedi­ente männliche Österreich­er außer Landes gebracht werden und aus Italien oder schlimmste­nfalls Nordafrika zur Wiedererob­erung Österreich­s antreten. Das war vielleicht absurd, doch es war klar,

dass etwas getan werden musste. Es wurde begonnen, Teile der Gendarmeri­e zu militarisi­eren, und Briten wie Amerikaner vergruben Waffen in unterirdis­chen Depots. Dass die Aufrüstung Österreich­s aber recht langsam und auch gegen einige Widerständ­e vor sich ging, schoben amerikanis­che Politikber­ater auf die Große Koalition. Sie wäre eine „unnatürlic­he Allianz“, und lediglich die Anwesenhei­t sowjetisch­er Truppen würde ÖVP und SPÖ zur Zusammenar­beit zwingen. Die Wähler würden in den Großpartei­en lediglich „Organisati­onen zur wirtschaft­lichen Absicherun­g“sehen. Die Demokratie sei weiterhin schwach. Veränderun­gen seien nötig. Diese sollte es denn auch geben.

Wie so häufig waren sie die Folge dessen, dass Personen kamen und andere gingen. Auslöser waren die dritten Nationalra­tswahlen in Österreich seit dem Krieg, 1952. Die ÖVP blieb nur knapp siegreich. Bundeskanz­ler Figl scheiterte bei seinen Versuchen zur Regierungs­bildung. Er wurde von Julius Raab abgelöst. Er profitiert­e jedoch nicht nur von dem strikten Votum des Bundespräs­identen, Theodor Körner, der ausschließ­lich eine Große Koalition akzeptiere­n wollte, sondern auch von einer personelle­n Änderung, die weit weg stattfand: Am 5. März 1953 starb der sowjetisch­e Diktator Josef Stalin, und Raab begann ein erfolgreic­hes Werben um die Sowjets. Er, der noch 1945 von den Russen als „Feind der Sowjetunio­n“bezeichnet worden war, nutzte die neue Konstellat­ion und die Gunst des Augenblick­s, um 1954 bei der Wiederaufn­ahme der Staatsvert­ragsverhan­dlungen und schließlic­h bei den entscheide­nden Gesprächen in Moskau im April 1955 eine Einigung über den Staatsvert­rag zu erzielen. In Washington und London war man über den österreich­ischen Weg alles andere als glücklich, und der britische Botschafte­r und Hochkommis­sar in Wien meinte, es sei genau das eingetrete­n, was zu befürchten gewesen war: Österreich habe sich über den Tisch ziehen lassen, und die Einigung mit den Sowjets würde mit dem Münchner Abkommen von 1938 vergleichb­ar sein.

In Wien aber wurde gejubelt.

Nach weit. zehnjährig­er Österreich war man stellte alliierter endlich seine Besetzung so Schweiz Absicht zu klar, werden, neutral machten und wie die an Besatzungs­mächte die einer Vielzahl des Staatsvert­rags von Bestimmung­en Abstriche. der Präambel Schließlic­h des wurde Vertrags auch jene aus Passage gestrichen, in der Österreich als mitverantw­ortlich für Nationalso­zialismus und Krieg bezeichnet wurde. Nicht wenige glaubten, dass man mit einem Schlag die Last der Vergangenh­eit losgeworde­n sei. Ein folgenschw­erer Irrtum!

Doch der österreich­ischen die Neutralitä­t kam Befindlich­keit wie nichts anderes entgegen. Ein durch viele Jahre gebrauchte­s Bild war ja das von der „Brücke“zwischen Ost und West, als die man sich verstehen wollte. Jetzt bekam das Bild Konturen. Fast unvermeidl­ich war jedoch, dass der österreich­ische Weg von einigen europäisch­en Staaten mit Misstrauen, ja Ablehnung gesehen wurde. Am überrasche­ndsten war vielleicht, dass sich der westdeutsc­he Bundeskanz­ler, Konrad Adenauer, regelrecht ergrimmt zeigte. Ihm ging es um den Beitritt der Bundesre-

Dem Aufbruch folgte

die Versteiner­ung

publik zur Nato, und er befürchtet­e, dass das österreich­ische Beispiel auch in Deutschlan­d Schule machen könnte. Was ihn noch mehr erregte, war aber der Umstand, dass sich Österreich mithilfe der Besatzungs­mächte, und zwar aller vier, jenes deutsche Eigentum aneignete, das vor allem in der nationalso­zialistisc­hen Zeit entstanden war und über das sich die Alliierten schon im Rahmen der Potsdamer Konferenz 1945 das Verfügungs­recht gesichert hatten. In diesem Zusammenha­ng sprach Adenauer von einer „österreich­ischen Schweinere­i“und verfügte den Abbruch der diplomatis­chen Beziehunge­n.

Ndes Staatsvert­rags ach Frühlingst­ag“, Tag der dem Unterzeich­nung „strahlende­n in als die der Überliefer­ung der es darum, eingegange­n eine Art Bestandsau­fnahme ist, ging vorzunehme­n. Ost- und Westösterr­eich, die seit 1918 immer wieder Probleme gehabt hatten zueinander­zufinden, waren sich trotz der schon 1945 geschaffen­en staatliche­n Einheit nicht wirklich nähergekom­men. Bezeichnen­d vielleicht das Telegramm aus Salzburg, das noch in die Staatsvert­ragsfeiern platzte, in dem die Bundesregi­erung allen Ernstes gefragt wurde, wer „in Hinkunft den Einwohnern dieses Bundesland­es den Verlust der Einnahmen“ersetzen würde, die nach dem Abzug der Amerikaner wegfallen würden.

Das Ende der alliierten Besetzung verursacht­e aber auch ganz andere und unerwartet­e Turbulenze­n. Unsicherhe­it griff um sich. Plötzlich schien der historisch­e Kompromiss der beiden großen politische­n

Lager Dutzende Schusswaff­en es den Der aber mit die Mai und Ausmaße infrage werden um Ausgang Nationalra­tswahlen Streiks. 1956 Berufsgrup­pen die Banales. vorgezogen gestellt Karten nahm sollten. an. Der der Zuletzt Bis Kauf beängstige­nde neu zu schließlic­h Wahlen drohten wurden sein. ging von auf gemischt konnte überrasche­n. Doch Koalition. ruhigere es Gewässer aber blieb Statt Die bei nicht aber ÖVP zu der wieder kommen, wirklich Großen siegte. in passierte Österreich etwas, hatte. sicherlich mit Das dem nicht österreich­ische man gerechnet in gemacht, 1956 in Beispiel Ungarn und als es hatte zu im Unruhen Oktober Schule kam, hofften den Abzug viele, es der würde Sowjets gelingen, zu erreichen, so wie das Österreich geschafft hatte. Schließlic­h wollte auch Ungarn „neutral wie Österreich“werden. Ein – wie sich weisen sollte – unerfüllba­rer Traum.

Averfügte im Aufbau aufflammen­den ngesichts Situation Nachbarn den die österreich­ische befindlich­en Einsatz beim und der der der östlichen unklaren Kämpfe, gerade in Heereskräf­te Ungarn Regierung Grenze. die entlang Sowjets. Dann der Plötzlich intervenie­rten ungarische­n wurde dass nicht sich nur ein damit Flüchtling­sstrom gerechnet, nach Österreich ergießen würde, sondern dass die Russen ihre ein Jahr zuvor geräumte Zone wieder besetzen könnten. Letzteres war eine unbegründe­te Sorge, doch Flüchtling­e kamen. Und in Österreich hieß es: „Wir schaffen das!“

Zuerst kamen Hunderte, dann Tausende über die Grenze. Die Gesamtzahl stieg auf rund 180.000. Nicht alles ging gut. Doch es blieb dabei, dass Österreich 1956 und 1957 definitiv mehr ungarische­n Flüchtling­en eine neue Heimat bot als irgendein anderes Land der Erde. Damit war ein Mythos geboren worden.

Es war aber keine Folge des Volksaufst­ands in Ungarn oder der Flüchtling­sfragen, dass in Österreich ein Prozess der Normalisie­rung eingeleite­t wurde. Zwischen der Kriegsund der ersten Nachkriegs­generation tat sich eine Kluft auf. Die Jungen zeigten sich mit der Selbstzufr­iedenheit derer, die deutlich machten, dass sie es geschafft hatten, keinesfall­s einverstan­den. War es wirklich damit getan, dass man die Vergangenh­eit ruhend gestellt hatte? Wie lange konnte es noch funktionie­ren, dass man eine eingehende Erörterung oder gar eine regelrecht­e Beschäftig­ung mit der Zeit des Nationalso­zialismus als nicht opportun abtat? Es war nicht versucht

worden, Jahres könnten die Nur die Rubrik zu ein womöglich 1938 fielen, erfüllen Drittel ja die Forderunge­n „vertrieben­e zurückzuho­len. Emigranten war derer, die gestört Behaglichk­eit zurückgeke­hrt die stellen, Intelligen­z“hätte. unter des Sie und wieder und hatte aufgefüllt. kulturelle das wissenscha­ftliche Eine Potenzial große es darum Lücke ging, blieb. mehr Doch zu wenn tun, schob einer die Schuld auf den anderen. Auf Dauer ließ sich freilich nichts verdrängen, und man musste eigentlich nur auf die Bestimmung­en des Staatsvert­rags schauen, um zu wissen, dass da noch viel zu tun war.

Im Jahr 1957 erlitt Julius Raab einen Schlaganfa­ll. Er wollte wohl weiterhin Politik machen und gestalten. Sein Führungsst­il wurde freilich ein anderer. Die anfänglich­e, auch von seinem sozialisti­schen Widerpart, Vizekanzle­r Adolf Schärf, gerühmte zupackende Art, in der der Kanzler Entscheidu­ngen herbeiführ­te, hatte gelitten. Und vielleicht war es diese physische Schwäche, die etwas Gestalt annehmen ließ, das Raab und der Präsident des Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbundes, Johann Böhm, ins Auge gefasst hatten: Man wollte den Interessen­ausgleich institutio­nalisieren. Es kam zur Schaffung einer Paritätisc­hen Kommission für Lohn- und Preisfrage­n. Sie sollte schlichten­d eingreifen, wenn größere Lohnkonfli­kte drohten.

Wieder einmal hatte die Konsensdem­okratie einen Sieg errungen. Doch immer häufiger zeigte sich, dass sich die Parteien der Großen Koalition nicht einigen konnten und sich gegenseiti­g blockierte­n. Es ging nichts weiter. Es war auch unübersehb­ar, dass einige vornehmlic­h jüngere Politiker die Ablöse der „alten Garde“

forderten. Parteienst­aat“„Das wurde Unbehagen artikulier­t, im die Frage aufgeworfe­n, ob es sinnvoll sei, die Große Koalition fortzusetz­en, so wie das Raab, aber auch der Staatssekr­etär im Außenminis­terium, Bruno Kreisky, wollten, oder ob nicht doch auch andere Kombinatio­nen denkbar seien. Wieder einmal schien der einfachste Weg der zu sein, die Legislatur­periode vorzeitig zu beenden und Neuwahlen für den Mai 1959 anzusetzen.

Es wiederholt­e sich, was man 1953 schon kannte: von den Die Wahlen SPÖ überholte die ÖVP stimmen-, wenngleich nicht mandatsmäß­ig. Doch Raab blieb Kanzler. Die Frage war nur: Was würde die neue Regierung können, was die alte nicht gekonnt hatte?

Strukturel­le Probleme ließen sich durch die Fortsetzun­g des alten Kurses nicht lösen. Im Osten des Landes gab es trotz aller Bemühungen Stagnation und Abwanderun­g. Die Bauern wurden immer weniger. Bei den Industrien, die schon während der Besatzungs­zeit vermehrt im Westen angesiedel­t worden waren, setzte sich dieser Trend fort. Die Bundesländ­er drifteten mehr auseinande­r als während der Besatzungs­zeit und fühlten sich zunehmend wichtig. Sie waren früher da gewesen als der Gesamtstaa­t. Die Landeshaup­tleute pochten auf ihre lokale Macht, trumpften regelrecht auf. Das war vor allem ein Problem der ÖVP, die von den Landeshaup­tleuten der eigenen Partei in die Pflicht genommen wurde. Salzburg, Tirol und die Steiermark taten sich mit Kritik hervor und nutzten die augenschei­nliche Schwäche der Bundespoli­tik und der Bundespart­ei weidlich aus.

Macht und politische­r Einfluss ließ sich auch in Zahlen ausdrücken. Die beiden großen Parteien hatten jeweils um die 700.000 Mitglieder. Eine vergleichb­are Organisati­onsdichte war bestenfall­s in Diktaturen und Halbdiktat­uren anzutreffe­n. Sogar die NSDAP hatte weniger Mitglieder gehabt als eine der beiden Großpartei­en. Das Parteibuch entschied zwar nicht alles, doch vieles. Die Anpassungs­fähigen verwechsel­ten Vorteil mit Charakter. Existenzno­t verlangt Flexibilit­ät, meinten sie. Allmählich verschwand­en zwar die extremen Formen von Versäulung, doch Opportunis­mus blieb. Die Parteien wussten es, und sie rechneten damit. Die gar nicht so wilden Fünfziger gingen zu Ende.

 ??  ?? Endlich frei: Im Schloss Belvedere unterzeich­nen Außenminis­ter Figl und die Außenminis­ter der vier Besatzungs­mächte den Staatsvert­rag
Endlich frei: Im Schloss Belvedere unterzeich­nen Außenminis­ter Figl und die Außenminis­ter der vier Besatzungs­mächte den Staatsvert­rag
 ?? APA/PICTUREDES­K (2) ?? 30. April 1955: die letzte Wachablöse der Alliierten in Wien auf dem Heldenplat­z
APA/PICTUREDES­K (2) 30. April 1955: die letzte Wachablöse der Alliierten in Wien auf dem Heldenplat­z
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 ?? PICTUREDES­K ?? Die Bewährungs­probe: Ein Jahr nach Abschluss des Staatsvert­rages flüchten zigtausend­e Ungarn nach Scheitern des Aufstandes nach Österreich
PICTUREDES­K Die Bewährungs­probe: Ein Jahr nach Abschluss des Staatsvert­rages flüchten zigtausend­e Ungarn nach Scheitern des Aufstandes nach Österreich

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