Die große Versumpfung
Ende der Anonymität des Sparbuchs kostete Kreisky viel Rückhalt in der Bevölkerung.
Die Aussichten auf die bevorstehenden Wahlen verdüsterten sich. Kreisky war gesundheitlich angeschlagen. Zu einer Augenerkrankung kam ein schweres Nierenleiden. Eine Diagnose der Ärzte, von der er seine Wiederkandidatur abhängig machte, schob er beiseite. Der ermattete „Sonnenkönig“K wollte es noch einmal wissen. reiskys Ära ging jäh zu Ende. Zwar kam die SPÖ bei den Nationalratswahlen im April 1983 noch einmal knapp an die Schallmauer zur absoluten Mehrheit heran, doch reichten die 49,5 Prozent der Stimmen nur noch für 90 Mandate – zu wenig. Eine Fortsetzung der Alleinregierung war nicht mehr möglich und eine große Koalition hatte Kreisky ausgeschlossen. 13 Jahre war er Bundeskanzler gewesen. Für eine kleine Koalition fehlten ihm die Kraft und die Lust.
Mitmischen wollte der Altkanzler schon. Kreisky stellte für seinen Nachfolger Fred Sinowatz die Weichen zu einer rot-blauen Koalition. Ideologische Bedenken wurden weggewischt: In der FPÖ, die mit 4 Prozent gerade noch das Überleben geschafft hatte, hätten nicht mehr die alten Nazis das Sagen, sondern die neuen Liberalen um Norbert Steger. Hauptsache, die ÖVP unter dem jungen Alois Mock werde von den Futtertrögen ferngehalten.
Der Burgenländer Sinowatz, unter Kreisky Unterrichtsminister und Vizekanzler, vom Typ eher Landespolitiker, nahm das neue Amt nur zaudernd an, beugte sich aber der Parteidisziplin. Die von Kreisky auferlegte Bürde machte ihm zu schaffen. In seiner Regierungserklärung fiel bereits der Satz, der zum belächelten Bonmot werden sollte: „Alles ist sehr E kompliziert …“s wurde auch immer komplizierter. Der zweite Ölpreisschock ließ weltweit die Wirtschaft schrumpfen. Die Globalisierung erzeugte neue, billigere Konkurrenz in Asien. Der vermeintliche Schutz der heimischen Industrie durch Zollmauern wurde zum Nachteil und verhinderte Modernisierungen. Dass Österreich eine „Insel der Seligen“sei, wie man noch 1983 beim Besuch von Papst Johannes Paul II. glaubte, war längst Illusion.
Von vorweihnachtlicher Ruhe war nichts zu spüren, als in den Donauauen bei Hainburg im Dezember 1983 die Motorsägen der Baumfäller heulten und sich Auschützer in frostiger Nacht anketteten, um den Bau eines Kraftwerkes zu verhindern. Die mit Hirschgeweihen geschmückten Demonstranten wurden die Gründungsväter und -mütter der Grünen. Als Gewerkschafter den Polizisten zur Hilfe eilen wollten, drückte Sinowatz die Stopptaste. Kein Kraftwerk, die Au blieb Au.
Der Bundeskanzler war angezählt. Die Probleme häuften sich. Im Jänner 1985 empfing Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager am Flughafen Graz-Thalerhof den aus italienischer Haft entlassenen Kriegsverbrecher Walter Reder. Das peinliche Dauerthema, wie es denn Österreich mit der NS-Vergangenheit halte, war wieder da. Das rot-blaue Paar Sinowatz-Steger wand sich. Beim kleinen Koalitionspartner traten neue Bruchstellen auf: Jörg Haider begann von Kärnten aus umzurühren.
Es kam noch schlimmer. Sinowatz versuchte, sich durch eine Regierungsumbildung Luft zu verschaffen. Der von Kreisky geerbte und ungeliebte Finanzminister Salcher wurde durch Franz Vranitzky ersetzt, der von der Spitze der Länderbank ins Winterpalais des Prinzen Eugen zurückkehrte, wo er einst an der Seite Androschs E begonnen hatte. s galt, von Dogmen und Ideologien Abschied zu nehmen. Bei Kreisky stand die Verstaatlichte Industrie gleichsam unter seinem persönlichen Schutz. Die Arbeitsplätze sollten sicher sein, die Betriebe ausgelastet. Koste es, was es wolle. Milliardenverluste wurden mit Steuergeldern zugedeckt. Als alles nicht mehr half, flüchteten die Manager in waghalsige Spekulationsgeschäfte oder stiegen in den verbotenen Waffenhandel ein. Die Voest, der Stolz der Verstaatlichten, war pleite. Intertrading und Noricum laute-
ten die Stichworte des Debakels. Der für die Staatsbetriebe zuständige Verkehrsminister Ferdinand Lacina feuerte den gesamten Vorstand. Ein zwar geleugnetes, aber kaum verhülltes Eingeständnis des Scheiterns.
Die Abwärtsspirale drehte sich weiter. Die Bundespräsidentenwahlen standen vor der Tür. Die in der Opposition erstarkte ÖVP setzte auf den ehemaligen UN-Generalsekretär Kurt Waldheim als zugkräftigen Favoriten, sein Gegenkandidat Kurt Steyrer, amtierender Gesundheitsminister, war honorig, aber bieder. Als enthüllt wurde, dass Waldheim die Biografie über seine Kriegszeit am Balkan lückenhaft und geschönt dargestellt hatte, entbrannte eine leidenschaftliche und auch gehässige Wahlschlacht. Waldheim siegte am 8. Juni 1986 in der Stichwahl. Sinowatz, der kräftig dagegen agitiert hatte, trat am nächsten Tag zurück.
Vranitzky musste ran. Sinowatz hatte ihn kurz zuvor eingeweiht. Der neue Bundeskanzler verfügte nicht über den „Stallgeruch“eines Parteifunktionärs, der frühere Bankmanager wirkte distanziert und technokratisch. Zunächst setzte Vranitzky auf Kontinuität, obwohl er kein Freund der kleinen Koalition gewesen sein dürfte, der er als Finanzminister bereits zwei Jahre lang angehörte. Der Innsbrucker Parteitag im September, auf dem Steger von Haider weggeputscht wurde, war dann für Vranitzky das Signal, das Risiko zu wagen. Er ließ das Bündnis mit der FPÖ platzen und kündigte sofortige Neuwahlen an.
Damit war die Strategie festgelegt, die später als „Vranitzky-Doktrin“den Spielraum der SPÖ einengen sollte: Mit der von Haider geführten FPÖ, in der Rechtsextreme, oder gar Nazis, den Ton angeben, könne B die SPÖ niemals koalieren. ei den Wahlen Ende November 1986 büßte die SPÖ fast 5 Prozent ein, doch konnte Vranitzky mit 44 Prozent Platz 1 behaupten. Die siegessichere ÖVP blieb mit 41 Prozent abgeschlagen. Mock sah sich um die Früchte seiner beharrlichen Oppositionsarbeit gebracht. Beim TV-Interview wurden die ersten Anzeichen seiner Nervenerkrankung sichtbar. Haider konnte im ersten Anlauf die FPÖ auf zehn Prozent puschen. Die Grünen mit Freda Meissner-Blau schafften erstmals ganz knapp den Einzug ins Parlament.
Rein rechnerisch wären drei unterschiedliche Koalitionen möglich gewesen. Eine Fortsetzung der rot-blauen Allianz mit Haider hatte Vranitzky jedoch von vornherein ausgeschlossen. Mit einem schwarz-blauen Bündnis liebäugelte Mock. Der ÖVP-Chef war aber nicht mehr unbestritten und erhielt im Parteivorstand keine Zustimmung für das Experiment. Die Vertreter der Wirtschaft waren in der Tradition der Sozialpartner geschlossen für die Kooperation mit der SPÖ, andere misstrauten der Person und Politik S Haiders. o kam es im Jänner 1987 nach einer Pause von anderthalb Jahrzehnten zu einer Wiedergeburt der Großen Koalition, die Österreich zuvor schon zwanzig Jahre lang regiert hatte. Freilich nicht mehr als schwarz-rote, sondern als rot-schwarze Koalition.
Vranitzky brauchte diese breite Stütze. Da Waldheim international geächtet wurde, fiel dem Kanzler oft auch die Funktion des Bundespräsidenten zu. Das Außenministerium hatte Vranitzky Mock überlassen, was Kreisky erzürnte, der sein Lebenswerk bedroht sah. Eine Kurskorrektur war aber dringend notwendig: Österreich war zwar Mitglied der Freihandelszone EFTA, doch wuchs die EWG viel dynamischer, was der Exportwirtschaft zu schaffen machte. Mock und die ÖVP drängten auf einen Beitritt zur EWG; Vranitzky gelang es, die Skeptiker in der SPÖ und im ÖGB umzustimmen.
Im Juli 1989 wurde in Brüssel der Brief übergeben, in dem Österreich den Beitritt zur größer werden Europäischen Gemeinschaft beantragte. Kurz zuvor hatte Mock an der ungarischen Grenze den „Eisernen Vorhang“durchschnitten. Ein neues Kapitel war aufgeschlagen.