Einsicht ins Denken eines Genies
Augenblicke
18 Blätter, in der Mitte gefaltet und beidseitig mit Spiegelschrift, Skizzen, Zeichnungen bedeckt. Das ist der Codex Leicester, das teuerste Manuskript aller Zeiten. Für 30,8 Millionen Dollar (nach heutigem Geldwert: gut 50 Millionen) hat es Microsoft-Gründer Bill Gates anno 1994 ersteigert. Entstanden ist es knapp 500 Jahre vorher, wohl zwischen 1506 und 1510. Leonardo da Vinci, der berühmte toskanische Maler, Bildhauer, Architekt, Natur- und überhaupt Universalgelehrte, hat es verfasst.
Die Erde stellt sich in diesem Konvolut von Ideen, Visionen, Intuition als lebendiger Organismus dar; Betrachtungen zum Wesen des Wassers, aber auch Erkenntnisse über das Vorkommen von Meerestierfossilien auf Berggipfeln finden sich darin: Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die die Versteinerungen für Überreste der Sintflut hielten, begriff Leonardo, dass die Felsen einst den Meeresgrund gebildet haben mussten. Und als Erster erkannte er im „Erdschein“des Mondes Sonnenlicht, das von der Erde ins All reflektiert wird und bewirkt, dass man bei Neumond manchmal die Nachtseite des Erdtrabanten aschgrau schimmern sieht.
Zum 500. Todestag des toskanischen Renaissance-Genies anno 2019 zeigen derzeit (und noch bis Jänner) die Uffizien in Florenz den Codex Leicester. Direktor Eike Schmidt, der nächstes Jahr die Leitung des Kunsthistorischen Museums in Wien übernimmt, hofft, dass im Zuge dessen „Leonardo der meistverbreitete Namen für Buben sein wird, die 2019 zur Welt kommen“. Ein frommer Wunsch, wo doch nicht einmal der Codex nach seinem Verfasser benannt ist. Ab 1717 trug er den Namen seiner Besitzer, der Earls of Leicester. Als Öltycoon Armand Hammer, Urgroßvater des Schauspielers Armie Hammer, ihn 1980 erwarb, gab er ihm, keineswegs von Bescheidenheit angekränkelt, seinen eigenen Namen: „Codex Hammer“hieß das Werk fortan, bis Bill Gates ihm den alten Titel wiedergab. Aber eh egal, wie der Codex heißt. Er ist so einzigartig wie sein Urheber.