Bundeskanzler Kurz zum Brexit-Drama: „Sind auf alles vorbereitet.“
Ein wilder Brexit würde Großbritannien mit ungeahnter Wucht treffen, warnt Bundeskanzler Sebastian Kurz. Kritik am österreichischen EURatsvorsitz weist er entschieden zurück.
Herr Bundeskanzler, viele Festlandeuropäer haben einen starken sentimentalen Bezug zu Großbritannien. Was mögen Sie an der Insel?
SEBASTIAN KURZ: Ich habe Freunde, die als EU-Bürger dort leben. Sie sind wegen des Brexits stark verunsichert. Ich habe es auch immer sehr geschätzt, die Briten bei Diskussionen in Brüssel am Tisch zu haben, weil sie aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Commonwealth-Tradition seit jeher einen sehr globalen Blick auf die Dinge haben.
Fragen Sie sich nie, was wäre, wenn Premier Cameron nicht auf die Idee gekommen wäre, ein Referendum über den EU-Austritt des Königreichs abzuhalten?
Was-wäre-wenn-Fragen sind in der Politik wenig sinnvoll. Auch wenn ich es zutiefst bedauere, ist es ein Faktum, dass Großbritannien sich entschieden hat, die EU zu verlassen. Jetzt ist es entscheidend, alles zu tun, damit das geordnet geschieht und das künftige Verhältnis der EU zum Königreich ein enges ist. Alles andere wäre zum Schaden Großbritanniens und der EU-27.
Sind Sie zufrieden mit dem nun ausgehandelten Austrittsvertrag?
Ich bin höchst zufrieden und auch glücklich, dass es uns gelungen ist, die Einheit der EU-27 während der Verhandlungen zu wahren. Das war ja nicht von Anfang an klar. Die Einigung, die es jetzt gibt, ist gut, weil damit keine der beiden Seiten über den Tisch gezogen wird.
In London sieht man das anders. Das Kabinett von Premierministerin May zerbröselt. Hätte die Europäische Union den Briten mehr entgegenkommen sollen?
Nein, der Deal ist fair. Diejenigen, die in Großbritannien gegen den Deal und für einen harten Brexit sind, sind auf einem Selbstzerstörungstrip. Wenn es zu einem ungeordneten Ausstieg des Landes kommt, schadet das der EU. Noch größer wird der Schaden aber für Großbritannien sein. Ein ungeordneter Austritt würde das Vereinigte Königreich mit einer Wucht treffen, die sich viele nicht vorstellen können. Ich kann nicht nachvollziehen, warum hier einige mit dem Feuer spielen.
Sind die Briten ein verlässlicher, rationaler Verhandlungspartner?
Es bringt nichts, den Briten jetzt auch noch Vorwürfe zu machen, dass die politische Lage in London extrem instabil und turbulent ist. Das macht die Sache besser. Mein großes Ziel ist, dass wir einen ungeordneten Brexit verhindern. Was wir nicht in der Hand haben, ist die Frage, ob Theresa May das Misstrauensvotum übersteht und es Anfang Dezember die ausreichende Unterstützung für das Austrittsabkommen im britischen Parlament gibt.
Wie stehen die Chancen dafür?
Im Moment ist das vollkommen uneinschätzbar.
May kämpft um ihr politisches Überleben. Hat sie die Lage im eigenen Land falsch eingeschätzt?
Das glaube ich nicht. Das britische Parlament ist in der BrexitFrage extrem polarisiert. In Mays eigener Partei gibt es viele, die mit einem harten Brexit liebäugeln. Und es gibt Gruppen, die noch immer gegen den EU-Austritt sind. May ist mit einer hochkomplexen Situation konfron- tiert und versucht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten für ein Maximum an Stabilität und einen geordneten Austritt zu sorgen.
May war nie für den Brexit. Ist es nicht ihr größter Fehler, gegen die eigene Überzeugung den Brexit zu ihrer Sache zu machen?
In einer Demokratie kann man sich nicht immer mit seiner eigenen Meinung durchsetzen. Das ist oft schmerzhaft, aber es ist so. Mays Job als Premierministerin ist es, den Willen des Volkes umzusetzen und den Schaden fürs Land und die EU möglichst gering zu halten.
Was, wenn May stürzt? Hat die EU einen Notfallplan?
Wir sind auf alles vorbereitet.
Mays Vorgänger, Tony Blair, will ein zweites Referendum. Können Sie dem was abgewinnen?
Ich habe Tony Blair unlängst genicht
troffen. Ich schätze sehr, dass er sich dafür einsetzt, dass Großbritannien in der EU bleibt. Das wäre auch meine Lieblingsvariante gewesen. Aber derzeit ist die Sache, wie sie ist. Die Bevölkerung hat entschieden und die Politik folgt diesem Votum.
Welche Lehren muss die EU aus dem Brexit ziehen?
Es ist wichtig, in die Zukunft zu schauen und alles zu tun, damit es mit Großbritannien weiterhin eine möglichst enge wirtschaftliche, politische, sicherheitspolitische, menschliche und kulturelle Kooperation gibt. Im Rückblick ist klar, dass eine raschere Lösung in der Migrationsfrage wahrscheinlich einiges an Emotion aus der Austrittskampagne in Großbritannien genommen hätte und die Entscheidung dann anders ausgefallen wäre.
Ist Merkel schuld am Brexit?
Es geht nicht darum, Einzelnen Schuld zuzuweisen. Das Ergebnis war sehr knapp. Und das Umfeld, in dem das Brexit-Votum stattfand, war keines, das Europa stark aussehen hat lassen. Es war eine Zeit der Überforderung, der Planlosigkeit und der öffentlich zur Schau gestellten Ohnmacht der EU. Das hat sicher nicht dazu beigetragen, dass die Masse der Briten für Europa gestimmt hat.
Wäre das Scheitern des Deals ein Makel für den österreichischen EU-Ratsvorsitz?
Ob das britische Parlament zustimmt oder nicht, liegt nicht in unserer Hand. Es wäre schön, wenn wir die Entscheidung treffen könnten. Dann wüsste ich nämlich, wie sie ausgeht.
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn übt heftige Kritik an Österreich. Kein Vorsitz-
land habe bisher so stark nationale über europäische Interessen gestellt. Trifft Sie die Kritik?
Seit ich den Sozialdemokraten Jean Asselborn kenne, kritisiert er meine Politik. Wäre das Gegenteil der Fall, würde mich das wundern. Dann müsste ich meine Politik hinterfragen. Ich freue mich, dass über die Parteigrenzen viele Staats- und Regierungschefs und auch die Präsidenten von Kommission und Rat unsere Vorsitztätigkeit wiederholt gelobt haben.
Asselborn macht seine Kritik an der Ablehnung des UN-Migrationspakts fest. Er sagt, Sie agierten als Handlanger von Ungarns Premier Orbán. Ist das so?
Asselborn ist in Luxemburg mehrfach abgewählt worden und wird in Kürze nicht mehr Außenminister sein. Ich glaube nicht, dass seine Aussagen wirkliche Relevanz haben, außer für die österreichische Medienlandschaft. Zum Migrationspakt ist meine Haltung ganz klar. Die Ablehnung ist legitim. Wir sind damit auch nicht alleine. Bulgarien, Tschechien, Estland, Ungarn haben angekündigt, dem Pakt auch nicht beizutreten, und auch andere Staaten wie Israel und Australien werden das vermutlich nicht tun. Ich verstehe die Aufregung nicht.
War es klug, als EU-Vorsitzland, das den Migrationspakt mitverhandelte, Eisbrecher für die Verweigerer in Europa zu spielen?
Was heißt hier Verweigerer? Was ist das für eine despektierliche Bezeichnung für souveräne Staaten, die von ihrem Recht Gebrauch machen, bei einer
Abstimmung darüber zu entscheiden, wie sie abstimmen! Ich lasse mir auch nicht unterstellen, dass wir gegen den Multilateralismus sind. Wir engagieren uns tatkräftig in der EU und in der UNO. Aber die Richtung muss halt stimmen.
Tut sie das? In Vorarlberg schlägt Ihnen offene Ablehnung wegen Ihrer Abschiebepraxis entgegen. Ist es nicht unanständig, wenn Sie die Schuld dafür nun den örtlichen Behörden geben?
Bleiben wir bei den Fakten! In Vorarlberg wurde bei einer Abschiebung eine Mutter von ihrem Kind getrennt. Das lehne ich ab und mir geht dieser Fall sehr nahe. So etwas darf es in Österreich nicht geben. Es gibt klare gesetzliche Regelungen, die das untersagen. Jeder Beamte hat sich daran zu halten. Ich finde es richtig, dass das Innenministerium hier eingeschritten ist und dieses Vorgehen beendet hat.
Sie sagen, so etwas dürfe es nicht geben. Aber bereitet nicht der hartherzige Ton der Politik, bereiten nicht rassistische Videos wie das Ihres Koalitionspartners FPÖ zur E-Card den Boden dafür?
Verzeihung, auch hier bitte ich Sie, bei den Fakten zu bleiben. Das E-Card-Video, das ich zutiefst ablehne, wurde am Dienstag publik. Die Abschiebung in Vorarlberg fand vor Wochen statt. Es gibt klare Regeln in unserem Land, die besagen, dass Kinder bei Abschiebungen nicht von ihren Eltern getrennt werden dürfen. Ich habe auch Informationen, dass die zuständigen Behörden in Feldkirch sagen, dass sie so etwas nicht noch einmal tun würden.