Von Ethik und von Kalkül
Solange er außer Kraft ist, wird der Rechtsstaat sich hüten zuzugeben, dass er außer Kraft ist.
Am 4. November dieses Jahres war (hier) erstmals ein Satz zu lesen, der drei Jahre früher, 2015, nicht zu lesen war: „2015 wanderten Tausende (recte: Hunderttausende) Flüchtende zur Grenze, der Kontrollverlust war enorm, der Rechtsstaat außer Kraft …“Solange er außer Kraft ist, wird der Rechtsstaat sich hüten zuzugeben, dass er außer Kraft ist.
Damals sagte man nicht „Flüchtlinge“, sondern „Refugees“, und große Mode war der Begriff „Willkommenskultur“. Immerhin flüchteten vor achtzig Jahren viele Menschen, sofern sie es sich leisten konnten, vor dem Nationalsozialismus und seiner Gräuelgesinnung in die halbe Welt. Seit damals waren Österreich & Deutschland in Fragen von Mitschuld, Schuld, Kollektivschuld verstrickt, die tatsächlich nicht (kurzfristig) moralisch, kaum (mittelfristig) politisch, nur (langfristig) biologisch beantwortet werden konnten.
Nun kamen sozusagen Hunderttausende aus der halben Welt nach Österreich & Deutschland zurück, und die mit der Gnade der späten Geburt gesegneten Willkommenskulturellen interpretierten die fast alttestamentarischen Flüchtlingskarawanen aus dem Süden als einmalige Gelegenheit für Generalwiedergutmachung und Humanismus. „Auf wessen Kosten?“, murrte die schweigende Mehrheit der Bevölkerung am Wirtshaustisch. „Erst kommt das Sozialsystem, dann die Moral …“– „Man muss etwas tun!“, konterten die Guten, „Frieden ist kein Automatismus, Nationalismus muss man in die Schranken weisen!“Mutige Widerständler zogen in den 30er-Jahren mit Tafeln und Transparenten durch die Straßen, auf denen stand: „Lasst Nazis nicht regieren und niemals aufmarschieren!“Diese Widerstandshelden riskierten, von SA und Nazischergen zusammengeschlagen, deportiert und umgebracht zu werden. Auch heute sind Mut/Wut/Gut-Bürger mit denselben Tafeln und Texten unterwegs. Aber sie riskieren nichts – außer dem warmen Applaus eines ergriffenen Kunstpublikums unter Laborbedingungen, und ihr moralmächtiges Heldentum wirkt ein bisschen kalkuliert.
Diese Republik hat die Flüchtlingskrise binnen eines Jahres zwei Kanzler gekostet. Die politische Konkurrenz sagt: Um die ist es eh nicht schad! Nun hat aber ihr eigener Kanzler selber Schwierigkeiten wegen unmenschlicher Härten bei Abschiebefällen. Das Dilemma ist: Im Grund haben alle recht, auch wenn sie noch so unterschiedlich denken: Rechtsstaat soll Rechtsstaat bleiben. Aber wo er inhuman wird, muss man ihn zwischendurch ein bisserl aushebeln …