„Wir brauchen ein moralisches Minimum“
„Warum gehen wir nicht in einen Käuferstreik?“Ute Frevert liefert eine ungemütliche Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft.
Mit dem ersten Adventwochenende biegen wir in eine Zeit hochverdichteten Konsums, der im Wesentlichen ein Ziel verfolgt: Geschenke. Warum schenken wir?
UTE FREVERT: Eigenliebe ist nicht das einzige Gefühl, das Menschen beherrscht. So selbstsüchtig wir auch sein mögen, gibt es doch einige Prinzipien in unserer Natur und Kultur, die bewirken, dass uns am Glück anderer gelegen und ihr Glück für uns notwendig ist, obwohl wir davon nichts haben – außer der Freude, es mitanzusehen. Als soziale Wesen bemühen wir uns um ein gedeihliches Miteinander – Geschenke zeigen dem Beschenkten, dass er oder sie für uns zählt und uns etwas wert ist.
Dennoch wird zunehmend soziale Kälte diagnostiziert, wird ein Rückgang an Toleranz und Nächstenliebe beklagt. Teilen Sie diesen Befund? Die Hoffnungen auf eine Gesellschaft, in der man nicht seines Nachbarn Feind ist, haben sich nur bedingt erfüllt. Daraus haben wir heute den Schluss gezogen, dass Gesellschaften ein moralisches Minimum brauchen, um zu funktionieren, aber nicht unbedingt ein Maximum an Empathie, Zuwendung, Wohlwollen und Vertrauen.
Schaffen wir das moralische Minimalniveau? Lässt der Kapitalismus als Wohlstandslieferant Platz für Moral?
Wir haben in 200 Jahren Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus eine Wertehaltung entwickelt, die uns in die Lage versetzt, mit Problemen nicht repressiv bewahrend, nicht einkapselnd umzugehen, sondern uns zukunftsfähig zu halten. Dieser moralische Habitus hat sich in kritischer Auseinandersetzung mit einer Wirtschaft herausgebildet, die sich von sich aus um Moral nicht schert.
Statt Moral Aktionstage, Angebote, Rabatte, Schlussverkäufe allerorts und pausenlos. Gier ist gut, Geiz ist geil: Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Sie ist ziemlich widerlich. Die Slogans appellieren an unsere schlechtesten Eigenschaften und schlagen all dem ins Gesicht, wozu wir unsere Kinder erziehen könnten beziehungsweise sollten. Dass wir uns als Konsumenten darauf einlassen, ist bemerkenswert. Warum gehen wir nicht in einen Käuferstreik? Die Macht dazu hätten wir.
Stattdessen fühlen wir uns mittlerweile gerne als Opfer des Systems. Zu Recht?
Der Kapitalismus – das sind ja nicht nur ein paar gierige Unternehmer, Finanzjongleure oder großformatige Steuerbetrüger. Wir sind alle Teil des Systems, und in Europa profitieren wir massiv davon. Keine Generation hat besser gelebt als unsere, hat mehr konsumiert,
ist mit natürlichen Ressourcen verschwenderischer umgegangen, hat mehr Dreck in die Atmosphäre geschleudert. Dieser lieb gewonnene Lebensstil aber, den wir dem wirtschaftlichen Wachstum verdanken, kann und wird nicht von Dauer sein.
Und dann?
Schon unsere Kinder und Enkel werden unter dem Klimawandel und seinen Folgen sehr viel mehr leiden als wir. In Verantwortung für sie und den Planeten müssen wir über Alternativen nachdenken oder zumindest die Bewegungsrichtung des Kapitalismus derart steuern und umlenken, dass die Katastrophe nicht so dramatisch ausfällt, wie sie ausfallen würde, wenn wir weitermachen wie bisher. Wir können uns nicht einfach in eine Nach-uns-die-Sintflut-Denke flüchten.
Was wir aber können, ist uns von moralischen Verpflichtungen freikaufen, beispielsweise der Anstellung von Behinderten oder über den Handel mit Emissionswerten. Lässt sich mangelnde Moral mit Geld aufwiegen? Es ist eher umgekehrt: Die Tatsache, dass man sich von etwas freikaufen kann, reduziert den Wert dessen, das da auf dem Markt feilgeboten wird. Behinderte beispielsweise gelten so ganz offensichtlich als Last, von der man sich durch eine Geldzahlung befreien kann.
Wohin führt das, wenn der Sozialstaat als moralischer Überbau des Kapitalismus selbst ökonomisiert wird? Wenn Güter, die auf Basis unseres Wertesystems eigentlich nicht zum Verkauf bestimmt sind, wie Wählerstimmen, Flüchtlingsquoten, Staatsbürgerschaften, menschliche Organe etc., auch vermarktet werden, führt das letztlich zu einer Aufzehrung der moralischen Substanz. Wenn alles „for sale“ ist, begegnen sich Bürger nur noch als Marktteilnehmer, die um den besten Preis, um das tollste Schnäppchen wetteifern. Außerdem verschärft sich dadurch das Machtungleichgewicht in unserer Gesellschaft. Beim Handel mit Wählerstimmen liegt das ganz offen zutage: Wer Geld hat, kann sich Macht kaufen.
Und wer keines hat, kippt auf die Schattenseite des Kapitalismus – die Armut. Inwieweit hat sich die moralische Auseinandersetzung mit Armut verändert? Im modernen Wohlfahrtsstaat mit Versicherungsbeiträgen, steuerfinanzierten Sozialtransfers und Staatszuschüssen sind Hilfeleistungen, die früher von Angesicht zu Angesicht gegeben wurden, personell nicht zuzuordnen. Sie begründen auch kein Verhältnis auf Gegenseitigkeit. Es sind anonymisierte Zuwendungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, für die niemand dankbar sein muss und die den Empfänger auch zu nichts verpflichten. Sie müssen jedenfalls nicht für den Staat oder die Gemeinschaft der Steuerzahler beten – wie es Almosenempfänger vor 200 Jahren taten. Das Wohlfahrtssystem ist dadurch im Grunde entmoralisiert und moralfrei, obwohl es auf einem moralischen Motiv beruht.
Katastrophen, Krisen und Kriege: Das befeuert bei manchen eine Unzufriedenheit mit dem Heute und eine Angst vor morgen. Welche Gefahren birgt das?
Tatsächlich haben viele Men- schen Angst vor der Zukunft. Sie fühlen sich in der Gegenwart eigentlich sehr, sehr wohl und möchten diesen Zustand für alle Ewigkeit erhalten. Zugleich weiß jeder, der mit offenen Augen auf die Welt schaut, dass da Probleme lauern, für die es heute noch keine greifbaren Lösungen gibt. Das weckt Unsicherheiten und Ängste, die von populistischen Bewegungen gezielt geschürt werden. Sie bieten dann einfache Lösungen an, die keine Lösungen sind, aber derzeit leider viele Anhänger finden, die sich komplexere Lösungen nicht zumuten wollen.
Gilt das auch für das „Feindbild“Digitalisierung, durch die ein Verlust von Arbeitsplätzen befürchtet wird? Der Abgesang auf den Kapitalismus als Vernichter von Arbeitsplätzen und Verelender von Menschen ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Aber der Kapitalismus ist äußerst kreativ – sowohl im Kreieren von Problemen als auch im Produzieren von Lösungen. Da bin ich unverbesserlich optimistisch. Bislang ist es immer noch gelungen, Produkte und Technologien zu erfinden, die Menschen in Arbeit und Brot setzen. Es wird eine andere Arbeit sein – aber nicht unbedingt eine schlechtere. Wie wichtig Arbeit für das Selbstwertgefühl von Menschen ist, wissen wir. Die Vorstellung, dass nur noch zehn Prozent der Menschen arbeiten und alle anderen vom bedingungslosen Grundeinkommen leben, wäre deshalb nicht mein Traum vom Glück.