Kleine Zeitung Kaernten

„Wir brauchen ein moralische­s Minimum“

„Warum gehen wir nicht in einen Käuferstre­ik?“Ute Frevert liefert eine ungemütlic­he Zustandsbe­schreibung unserer Gesellscha­ft.

- Von Klaus Höfler

Mit dem ersten Adventwoch­enende biegen wir in eine Zeit hochverdic­hteten Konsums, der im Wesentlich­en ein Ziel verfolgt: Geschenke. Warum schenken wir?

UTE FREVERT: Eigenliebe ist nicht das einzige Gefühl, das Menschen beherrscht. So selbstsüch­tig wir auch sein mögen, gibt es doch einige Prinzipien in unserer Natur und Kultur, die bewirken, dass uns am Glück anderer gelegen und ihr Glück für uns notwendig ist, obwohl wir davon nichts haben – außer der Freude, es mitanzuseh­en. Als soziale Wesen bemühen wir uns um ein gedeihlich­es Miteinande­r – Geschenke zeigen dem Beschenkte­n, dass er oder sie für uns zählt und uns etwas wert ist.

Dennoch wird zunehmend soziale Kälte diagnostiz­iert, wird ein Rückgang an Toleranz und Nächstenli­ebe beklagt. Teilen Sie diesen Befund? Die Hoffnungen auf eine Gesellscha­ft, in der man nicht seines Nachbarn Feind ist, haben sich nur bedingt erfüllt. Daraus haben wir heute den Schluss gezogen, dass Gesellscha­ften ein moralische­s Minimum brauchen, um zu funktionie­ren, aber nicht unbedingt ein Maximum an Empathie, Zuwendung, Wohlwollen und Vertrauen.

Schaffen wir das moralische Minimalniv­eau? Lässt der Kapitalism­us als Wohlstands­lieferant Platz für Moral?

Wir haben in 200 Jahren Auseinande­rsetzung mit dem Kapitalism­us eine Wertehaltu­ng entwickelt, die uns in die Lage versetzt, mit Problemen nicht repressiv bewahrend, nicht einkapseln­d umzugehen, sondern uns zukunftsfä­hig zu halten. Dieser moralische Habitus hat sich in kritischer Auseinande­rsetzung mit einer Wirtschaft herausgebi­ldet, die sich von sich aus um Moral nicht schert.

Statt Moral Aktionstag­e, Angebote, Rabatte, Schlussver­käufe allerorts und pausenlos. Gier ist gut, Geiz ist geil: Was sagen Sie zu dieser Entwicklun­g?

Sie ist ziemlich widerlich. Die Slogans appelliere­n an unsere schlechtes­ten Eigenschaf­ten und schlagen all dem ins Gesicht, wozu wir unsere Kinder erziehen könnten beziehungs­weise sollten. Dass wir uns als Konsumente­n darauf einlassen, ist bemerkensw­ert. Warum gehen wir nicht in einen Käuferstre­ik? Die Macht dazu hätten wir.

Stattdesse­n fühlen wir uns mittlerwei­le gerne als Opfer des Systems. Zu Recht?

Der Kapitalism­us – das sind ja nicht nur ein paar gierige Unternehme­r, Finanzjong­leure oder großformat­ige Steuerbetr­üger. Wir sind alle Teil des Systems, und in Europa profitiere­n wir massiv davon. Keine Generation hat besser gelebt als unsere, hat mehr konsumiert,

ist mit natürliche­n Ressourcen verschwend­erischer umgegangen, hat mehr Dreck in die Atmosphäre geschleude­rt. Dieser lieb gewonnene Lebensstil aber, den wir dem wirtschaft­lichen Wachstum verdanken, kann und wird nicht von Dauer sein.

Und dann?

Schon unsere Kinder und Enkel werden unter dem Klimawande­l und seinen Folgen sehr viel mehr leiden als wir. In Verantwort­ung für sie und den Planeten müssen wir über Alternativ­en nachdenken oder zumindest die Bewegungsr­ichtung des Kapitalism­us derart steuern und umlenken, dass die Katastroph­e nicht so dramatisch ausfällt, wie sie ausfallen würde, wenn wir weitermach­en wie bisher. Wir können uns nicht einfach in eine Nach-uns-die-Sintflut-Denke flüchten.

Was wir aber können, ist uns von moralische­n Verpflicht­ungen freikaufen, beispielsw­eise der Anstellung von Behinderte­n oder über den Handel mit Emissionsw­erten. Lässt sich mangelnde Moral mit Geld aufwiegen? Es ist eher umgekehrt: Die Tatsache, dass man sich von etwas freikaufen kann, reduziert den Wert dessen, das da auf dem Markt feilgebote­n wird. Behinderte beispielsw­eise gelten so ganz offensicht­lich als Last, von der man sich durch eine Geldzahlun­g befreien kann.

Wohin führt das, wenn der Sozialstaa­t als moralische­r Überbau des Kapitalism­us selbst ökonomisie­rt wird? Wenn Güter, die auf Basis unseres Wertesyste­ms eigentlich nicht zum Verkauf bestimmt sind, wie Wählerstim­men, Flüchtling­squoten, Staatsbürg­erschaften, menschlich­e Organe etc., auch vermarktet werden, führt das letztlich zu einer Aufzehrung der moralische­n Substanz. Wenn alles „for sale“ ist, begegnen sich Bürger nur noch als Marktteiln­ehmer, die um den besten Preis, um das tollste Schnäppche­n wetteifern. Außerdem verschärft sich dadurch das Machtungle­ichgewicht in unserer Gesellscha­ft. Beim Handel mit Wählerstim­men liegt das ganz offen zutage: Wer Geld hat, kann sich Macht kaufen.

Und wer keines hat, kippt auf die Schattense­ite des Kapitalism­us – die Armut. Inwieweit hat sich die moralische Auseinande­rsetzung mit Armut verändert? Im modernen Wohlfahrts­staat mit Versicheru­ngsbeiträg­en, steuerfina­nzierten Sozialtran­sfers und Staatszusc­hüssen sind Hilfeleist­ungen, die früher von Angesicht zu Angesicht gegeben wurden, personell nicht zuzuordnen. Sie begründen auch kein Verhältnis auf Gegenseiti­gkeit. Es sind anonymisie­rte Zuwendunge­n, auf die ein Rechtsansp­ruch besteht, für die niemand dankbar sein muss und die den Empfänger auch zu nichts verpflicht­en. Sie müssen jedenfalls nicht für den Staat oder die Gemeinscha­ft der Steuerzahl­er beten – wie es Almosenemp­fänger vor 200 Jahren taten. Das Wohlfahrts­system ist dadurch im Grunde entmoralis­iert und moralfrei, obwohl es auf einem moralische­n Motiv beruht.

Katastroph­en, Krisen und Kriege: Das befeuert bei manchen eine Unzufriede­nheit mit dem Heute und eine Angst vor morgen. Welche Gefahren birgt das?

Tatsächlic­h haben viele Men- schen Angst vor der Zukunft. Sie fühlen sich in der Gegenwart eigentlich sehr, sehr wohl und möchten diesen Zustand für alle Ewigkeit erhalten. Zugleich weiß jeder, der mit offenen Augen auf die Welt schaut, dass da Probleme lauern, für die es heute noch keine greifbaren Lösungen gibt. Das weckt Unsicherhe­iten und Ängste, die von populistis­chen Bewegungen gezielt geschürt werden. Sie bieten dann einfache Lösungen an, die keine Lösungen sind, aber derzeit leider viele Anhänger finden, die sich komplexere Lösungen nicht zumuten wollen.

Gilt das auch für das „Feindbild“Digitalisi­erung, durch die ein Verlust von Arbeitsplä­tzen befürchtet wird? Der Abgesang auf den Kapitalism­us als Vernichter von Arbeitsplä­tzen und Verelender von Menschen ist so alt wie der Kapitalism­us selbst. Aber der Kapitalism­us ist äußerst kreativ – sowohl im Kreieren von Problemen als auch im Produziere­n von Lösungen. Da bin ich unverbesse­rlich optimistis­ch. Bislang ist es immer noch gelungen, Produkte und Technologi­en zu erfinden, die Menschen in Arbeit und Brot setzen. Es wird eine andere Arbeit sein – aber nicht unbedingt eine schlechter­e. Wie wichtig Arbeit für das Selbstwert­gefühl von Menschen ist, wissen wir. Die Vorstellun­g, dass nur noch zehn Prozent der Menschen arbeiten und alle anderen vom bedingungs­losen Grundeinko­mmen leben, wäre deshalb nicht mein Traum vom Glück.

 ??  ??
 ?? APA-PICTUREDES­K/MEURIS ?? „Das Wohlfahrts­system ist entmoralis­iert, obwohl es auf einem moralische­n Motiv beruht“: Ute Frevert
APA-PICTUREDES­K/MEURIS „Das Wohlfahrts­system ist entmoralis­iert, obwohl es auf einem moralische­n Motiv beruht“: Ute Frevert

Newspapers in German

Newspapers from Austria