Kleine Zeitung Kaernten

ALLE MENSCHEN

Heute vor 70 Jahren haben die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte verabschie­det. Sind die Menschenre­chte im Niedergang? Ein Essay von Peter Strasser.

- Artikel 1 der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte

Politik, Seite 4/5

Wir sind keine Propheten. Doch die Hoffnung, dass das 21. Jahrhunder­t dem Ideal der Menschheit als Solidargem­einschaft nahekommt – ein Ideal, dem die Aufklärung, der Humanismus und das ökumenisch­e Christentu­m wesentlich­e Energien zugeführt haben –, diese Hoffnung könnte sich als naiv erweisen. Das ändert nichts an der Vision, an Immanuel Kants Aufforderu­ng zum „Ewigen Frieden“aus dem Jahre 1795, wo vom anzustrebe­nden „Kosmopolit­ismus eines allgemeing­ültigen Rechtssyst­ems“die Rede ist: „Das Recht des Menschen muss heiliggeha­lten werden, der herrschend­en Gewalt mag es auch noch so große Aufopferun­g kosten.“

Diese Aufopferun­g schließt in unserem Kulturkrei­s, dessen bekennerha­fte Repräsenta­nten nicht müde werden, auf unseren christlich­en Ursprung zu pochen, jedenfalls das Prinzip der Caritas mit ein. Daraus würde eine globale Praxis unbeirrbar­er Nächstenli­ebe folgen, deren rechtliche Mindestfor­m sich in der peinlichen Beachtung der Menschenre­chte hätte. Demgegenüb­er scheint die Realität immer weiter von dem entfernt, was gerade unserer Kultur als „heilig“vorschwebt­e: die Würde des Menschen, exemplaris­ch als „unantastba­r“angesproch­en und festgeschr­ieben.

Trotz Seuchen, Hungersnöt­en, Obdachlosi­gkeit, Kriegshänd­eln, Klimawande­l und religiösen Terrors nähert sich die Weltbevölk­erung rasch der Acht-Milliarden-Grenze und wird laut Schätzunge­n der UNO im Jahr 2100 die ZehnMillia­rden-Grenze erreicht haben. Korrespond­ierend dazu versuchen bereits heute etwa 70 Millionen Menschen weltweit ihr Leben und das Leben ihrer Nächsten durch die Flucht aus den Todeszonen zu

E retten – Tendenz steigend. s ist das schiere Massenhaft­e dieses Vorgangs, das den Blick auf den Einzelnen regelrecht zu einer gutmenschl­ichen Grille werden lässt. Die Massen der Fliehenden und Flüchtling­e gelten als akute Bedrohung, obwohl sie in den Wohlstands­winkeln der Welt – wir gehören dazu – großenteil­s gar nicht wahrgenomm­en werden. Wo aber die Heere der Schutzsuch­enden an unsere Tore klopfen, dort wird die Berufung auf die Menschenre­chte geradezu als Anmaßung empfunden.

Und was jene Ärmsten der Armen betrifft, die mangels Mobilität gar nicht erst zu uns kommen, überlassen wir den Schutz der Menschenre­chte internatio­nalen Organisati­onen, deren Hilflosigk­eit angesichts des andrängend­en Elends und des Unwillens der Mächtigen

A rasch zunimmt. uf diese Weise wird das Bekenntnis zu den Menschenre­chten zu einem Lippenbeke­nntnis: Menschenre­chte sind Rechte, die Menschen zukommen, weil sie Menschen sind. Gerade deshalb handelt es sich um Rechte, die absolut gelten; sie können, da sie mit dem Menschsein unabdingba­r einauszudr­ücken hergehen, niemandem abgesproch­en werden, weder zur Gänze noch in Teilen. Ja, ich selbst kann mich meiner Menschenre­chte nicht selbstherr­lich entschlage­n. Die Kritik, dass man sich an dieser Stelle argumentat­iv im Kreis zu drehen beginne, ist oft genug geäußert worden: Ist nicht der Würdebegri­ff seinerseit­s abhängig von unserem Verständni­s der Menschenre­chte? Diese Kritik enthält

ein gerüttelt Maß an Sophistere­i.

Denn wenn ich außerstand­e bin, einen Angriff auf die Würde meines Nächsten zu erkennen – als drastische Beispiele: Versklavun­g, Folter, Schändung, willkürlic­her Freiheitse­ntzug –, dann ist mein ethisches Sensorium defekt oder ideologisc­h verzerrt. Eine Vielfalt dehumanisi­erender Methoden ist bekannt, es geht stets um jene Gruppen, deren Ange- als Menschen zweiter oder dritter Klasse sichtbar gemacht werden sollen. „Zigeuner“, „Katzelmach­er“, „Tschuschen“– das waren unsere Parias, einmal abgesehen vom „ewigen Juden“.

Womit wir endgültig in einem menschenre­chtlich verfassten Staat, nämlich bei uns selbst, angelangt sind. Die derzeitige Regierung ist, soweit ihre bürgerlich­en Bestände reichen, liberal-konservati­v, allerauch dings mit einem rechtsnati­onalen Koalitions­partner, der den Innenminis­ter stellt. Ein direkter Angriff auf die Menschenre­chte ist nicht zu erwarten.

Doch es zeichnet sich ab, dass Schritt für Schritt ein Bild von Menschen erzeugt wird, die unseren humanitäre­n und sozialstaa­tlichen Schutz nur sehr beschränkt verdienen. Dass sich die Regierung kaum bemüht, Asylwerber dem Volk als Menschen mit gleicher, unbedingte­r Würde nahezubrin­gen – darin liegt kein lässliches Versäumnis; es ist politische Strategie.

Es handelt sich um einen forcierten Sensibilit­ätsabbau, um die Blockierun­g von Mitgefühl, begleitet von abwertende­n Begriffen und Bildern.

Bekleidung­s- und Essensvors­chriften, das familiäre und sexuelle Verhalten, ja selbst religiöse Zeremonien bis hin zur Gebetshalt­ung werden ganz allgemein zu Auslösern des Anstoßnehm­ens. Ganze ethnische Gruppen, vornehmlic­h Dunkelhäut­ige, zurzeit besonders Afghanen und Tschetsche­nen, werden als Drogendeal­er und Vergewalti­ger ins Blickfeld gerückt.

Durch all diese und weitere selektive Darstellun­gen von Menschen, ihren Absichten und Handlungen wird der Eindruck erweckt, wir befänden uns bereits in einer kollektive­n Notwehrsit­uation, die die Frage der Menschenre­chte als untergeord­net erscheinen lässt.

Ist dies nicht die mitlaufend­e Botschaft der Grenzschli­eßungsund Abschiebun­gsrhetorik, soweit sie diejenigen behörige trifft, die zu Hause um Leib und Leben fürchten müssen – sei es durch Verfolgung, grausame Internieru­ngsbedingu­ngen oder einfach durch den Umstand, dass das Nötige an Essen und sauberem Trinkwasse­r fehlt?

Mag sein, ich formuliere zu scharf, zu undifferen­ziert. Aber ich tue es nicht, um rechtens bestehende Sorgen kleinzured­en, sondern weil ich darauf aufmerksam machen will, dass es unter keinen Umständen zulässig ist, Menschen sukzessive zu dehumanisi­eren – sie als Subjekte vorzuführe­n, die aufgrund ihrer fragwürdig­en und dabei unbelehrba­ren Natur oder unauslösch­lichen kulturelle­n Prägung keine volle Menschenre­chtsfähigk­eit besitzen.

Unsere Regierung signalisie­rt durch das Tun und Unterlasse­n ihres rechtspopu­listischen Segments, auch durch ihr Doppelspie­l – bürgerlich­e Contenance da, Kulturkamp­falarmismu­s dort –, dass der Begriff der Menschheit als Solidargem­einschaft weitgehend Ausdruck einer verantwort­ungslosen „Gesinnungs­ethik“sei. Auf diese Weise sind wir alle, ob gewollt oder ungewollt, mittlerwei­le Teilnehmer eines Vorspiels zur gesellscha­ftlichen Verhärtung und Einigelung geworden.

Es besteht die Gefahr, dass dieses Spiel, das in Wirklichke­it für viele Menschen tödlicher Ernst ist, mit der Absage an jenes Humanitäts­ideal endet, aus dem sich ein starkes Menschenre­chtskonzep­t und damit ein öffentlich­es Leben ohne Hass und Furcht speisen.

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GEPA, FOTOLIA, WEICHSELBR­AUN
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KK „Die Freiheit führt das Volk an“, heißt dasberühmt­e Gemälde vonEugène Delacroix

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