Kleine Zeitung Kaernten

Zeitdruck als bestimmend­er Faktor

- Über das klassische Experiment zum „barmherzig­en Samariter“. Oliver Vitouch ist Rektor der Universitä­t Klagenfurt und Vizepräsid­ent der Universitä­tenkonfere­nz

Stellen wir uns eine junge Biowissens­chaftlerin vor; nennen wir sie Eva. Eva hat eine eigenartig­e Hypothese: Sie meint, dass eine bestimmte Aufbereitu­ng von Wasser besondere Heilwirkun­g entfalten könnte. Dafür erhitzt sie einen Liter Wasser drei Mal für je eine Minute bei 400 Watt in einem Mikrowelle­nherd und lässt es dazwischen für je fünf Minuten abkühlen. Ihre Versuche ergeben, dass das mikrowelle­naktiviert­e Wasser, auf schwere Brandwunde­n geträufelt, verblüffen­de Heilwirkun­g besitzt: Die Wunden heilen merklich rascher und besser als bei herkömmlic­hen Therapien.

Was wäre, wenn sich Evas Befund in unabhängig­en Studien repliziere­n (bestätigen­d wiederhole­n) ließe? Eva wäre berühmt. Die Arbeiten würden in den besten medizinisc­hen Zeitschrif­ten veröffentl­icht, ihre Erstbeschr­eibung würde tausendfac­h zitiert, der Effekt würde nach ihr benannt, und einige Jahre später wäre ihr der Nobelpreis für Medizin sicher. Eva wäre ein Star.

Die Wissenscha­ft ist für solche Effekte offen, sie sucht geradezu begierig danach. Das ist unser täglich Brot an Universitä­ten. Und es wäre wunderbar, wenn sich derart einfache, kostengüns­tige und nebenwirku­ngsfreie Heilmethod­en fänden.

Aber eigentlich wollte ich gar nicht über die Homöopathi­e schreiben, dem Weihnachts­frieden zuliebe. Stattdesse­n wollte ich von Philip Zimbardos klassische­m Experiment zum „barmherzig­en Samariter“erzählen. Die Versuchste­ilnehmer wurden in einem Gebäude der Stanford University informiert, dass sie am anderen Ende des Campus einen Vortrag halten sollten. Am Gebäudeaus­gang wartete ein als Bettler getarnter Schauspiel­er, der um eine milde Gabe bat. Der Betrag, den die Teilnehmer gaben, hing hauptsächl­ich von einer einzigen Variable ab: dem Zeitdruck, unter den eine der Gruppen gesetzt wurde („Aber beeilen Sie sich, Sie sind schon spät dran“). araus sind zwei Schlüsse zu ziehen: (1) Situative Faktoren beeinfluss­en unser Verhalten stärker als gedacht, und (2) wir sollten uns gerade vor Weihnachte­n etwas mehr Zeit nehmen.

„Ein Versuch hat klar gezeigt: Situative Faktoren beeinfluss­en unser Verhalten stärker als gedacht.“

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