„Überall spürt man die Erschöpfung der Zukunft“
Christopher Clark ist einer der bekanntesten Historiker der Gegenwart. Seit „Die Schlafwandler“ist der Australier auch internationaler Bestsellerautor. In seinem neuen Buch stößt er die Debatte an, wie sich Macht und Zeit beeinflussen.
Sie befassen sich in „Zeit und Macht“mit dem Großen Kurfürsten, Friedrich II., mit Reichskanzler Otto von Bismarck und den Nazis. Das klingt nach reiner preußischer Geschichte. Sie ergründen die Figuren aber auch für eine Inspektion der Gegenwart. Was war der Ausgangspunkt?
CHRISTOPHER CLARK: Es entstand aus dem Gefühl, dass wir in einer Zeit heftiger, zeitlicher Manipulationen leben. Man spürt überall eine Verunsicherung, wie die Zeitlandschaft der zeitgenössischen Welt beschaffen sein soll. Man hat das Gefühl, dass sich die Zeit wie eine Nadel bei einem defekten Kompass dreht. Man weiß nicht, wo es nach vorne und nach hinten geht. Viele alte Muster, wie der Glaube an die Moderne, sind weggefallen oder geschwächt. Schon als ich das Buch „Die Schlafwandler“über Preußen schrieb, stach mir der Streit zwischen dem Großen Kurfürsten und seinen Landständen ins Auge. Was ist Ihnen aufgefallen? Schon kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg drängt Friedrich Wilhelm auf einen Staat, obwohl er das Wort noch nicht benutzt. Er will ein Machtinstrument um seine Person aufbauen. Um das zu erreichen, braucht er Steuern. Er begründet seine Ausgaben mit bevorstehenden Gefahren, die seinen Territorien von außen drohen. Er argumentiert mit der Zukunft. Dagegen argumentieren die Landstände mit der Vergangenheit. Sie sagen: Nichts, was nicht schon da war, ist legitim. Es dürfe keine Erneuerung geben. Sie seien da, um das Althergekommene zu schützen und für die nächste Generation sicher und integer zu halten. Sie argumentieren aus einer Präferenz für die Kontinuität mit der Vergangenheit. Der Kurfürst sagt hingegen: Der Staat muss brechen mit der Tradition und der Vergangenheit, um sich weiterzuentwickeln.
Sie verwenden ein physikalisches Prinzip von Einstein: „Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit“. Wie kann man sich das vorstellen? In einem klugen Leserbrief stand, ich hätte nicht von „Beugung der Zeit“sprechen dürfen, sondern von der „Beugung des Zeitbewusstseins“. Das stimmt. Es geht nicht um Zeit an sich. Sie ist für Physiker nur eine Dimension ihrer Rechnungen, aber sie ist außerhalb dieses Bereichs ohne das menschliche Bewusstsein nicht denkbar. Natürlich geht es mir um das öffentliche, geteilte und gemeinsame Bewusstsein der Menschen für die Struktur und Beschaffenheit der Zeit. Ob sie sich bewegt oder fließt und in welche Richtung. Ob uns die Vergangenheit einholt oder die Zukunft auf uns einstürzt oder die Vergangenheit wieder wegfällt. Das sind alles Fragen, auf die man in verschiedenen Zeiten unterschiedliche Antworten gefunden hat. Mir ging es um die Beugung des Zeitbewusstseins. Ich habe das zwar mit der Physik verglichen, sehe aber dennoch kein naturwissenschaftliches Prinzip dahinter. Im Fall der Physik ist die Zeit eine physische Konstante. Bei den Menschen und den politischen Verhältnissen ist sie alles andere als das. Das Zeitbewusstsein ist den jeweiligen Bedingungen unterworfen.
In Ihrem Buch widersprechen Sie der Theorie einer Linearität in der Geschichte. Sie sprechen von oszillierenden Zeiten. Sie sagen, dass der Zeitfluss und die Macht durch Destruktion eine Neuausrichtung erfährt. Ist es eine Disruption, die wir aktuell erleben? Deswegen kam mir die Idee für dieses Buch. Die Frage, ob Geschichte linear ist oder nicht, ist natürlich auch eine Frage der Ideologie. Ich denke schon seit 20 Jahren über diese Zeitproblematik nach und dabei an die großartigen Arbeiten des Historikers Rainhart Koselleck. Ich wäre ohne seine Bücher wie „Vergangene Zukunft“nicht auf dieses Thema gekommen. Ihn interessierte die Frage, wie das
in der Moderne ankommt. Was bringt uns dorthin? Bei mir sieht dieses Modell anders aus. Es ist eine Oszillation zwischen verschiedenen Zeitmustern. Gerade das erleben wir heute. In den 50ern und 60ern sprach man viel von der Moderne und in den 80ern von der Postmoderne. Aber das war nur der Beweis, dass wir kein besseres Wort hatten.
Sie erwähnen auch den Historiker Francis Fukuyama und sein Buch „Das Ende der Geschichte“. Fukuyama meinte, die Moderne habe sich erfüllt. Wir seien damit am Ende der Moderne und es würde ewig gleich bleiben. Damit konnte die Hegel’sche Linearität noch erhalten bleiben in diesem Stillstand und Endzustand. Nun ist es aber anders geworden und man lehnt dieses Modell vollständig ab. Man meint, die Moderne gelte gar nicht mehr als Zeitstruktur. Es gibt vielleicht gar keine Zukunft. Wenn sich die schlimmsten Prognosen zum Klimawan- del bewahrheiten, dann gibt es in der Tat überhaupt keine Zukunft irgendwelcher Art.
Daraus resultiert die politische Orientierungslosigkeit? Überall spürt man die Erschöpfung der Zukunft. In den liberalen Demokratien Westeuropas, aber auch in Putins Russland gibt es eine Zukunftslosigkeit. Das einzige Land, in dem man von einer starken Zukunftsträchtigkeit sprechen kann, ist China. Dort hat Xi das „Xi Jinping’sche Denken“in sehr großen Zeiträumen entwickelt, das in die nächsten einhundert bis zweihundert Jahre hineinreicht. Dort wird die heutige Epoche nicht „Zeit nach dem Kalten Krieg“oder „Post Cold War“, sondern „Epoche strategischer Möglichkeiten“genannt.
Warum schauen wir gerade so gerne in die Vergangenheit? Weil wir nicht an die Zukunft glauben. Frankreichs Präsident Macron hat bei sich zu Hause so viele Probleme. Das InteressanZeitgefühl te an ihm ist, dass er genau das angesprochen hat. Er hat gesagt: Europa ist unsere Zukunft. Es ist der Horizont, der uns eine Zukunft gewährleistet. Wenn wir uns einfach nur hinsetzen und warten, bis sich alles verwirklicht, wird die Vergangenheit die Gegenwart einholen. Gerade das ist es, was die Populisten tun wollen. Sie wollen alte Zukünfte ausschalten und uns stattdessen neue fingierte Vergangenheiten aufzwingen.
In Österreich haben wir derzeit einen Kanzler, der bewusst mit alten Gewohnheiten bricht. Gibt es einen Vergleich zum Kurfürsten, einem, der aufbricht und sagt, ich löse mich von alten Strukturen? Durchaus. Ich sehe die Erzählart über Sebastian Kurz, er sei ein Populist und Reaktionär, inzwischen schon skeptisch. Ich glaube auch nicht, dass er das ist. Er ist etwas viel Komplexeres. Er ist auch sehr intelligent, was man in den Medien nicht unbedingt zu lesen bekam. Aber leider weiß ich nicht genug über die Konturen seines Zukunftsbildes. Ich weiß nicht, wohin er will. Aber er ist ein sehr geschickter Politiker.
Auf der einen Seite koaliert er mit einer Partei, die sich an die gute alte Zeit erinnert. Gleichzeitig bricht er mit den Traditionen seiner konservativen Partei. Er ist in einer anderen Situation als der Kurfürst und eher in einer Situation wie Bismarck. Er musste mit Vergangenheitskräften arbeiten und man meinte, die Konservativen wären seine Hauspartei. Aber er hat sie immer wieder im Stich gelassen, hat mit anderen Parteien gemeinsame Sache gemacht. Sogar mit den Nationalliberalen und Sozialdemokraten hat er gesprochen, natürlich hinter geschlossenen Türen. Er hat viele Blätter aus dem Buch der Sozialdemokratie genommen, vor allem beim Sozialstaat. Insofern war er einer, der mit einer angeblich konservativen Identität firmiert, aber nach nichtkonservativen Zielen strebt.
Kurz bekennt sich zu Europa, setzt aber auf Dezentralität. Man darf das Projekt EU nicht daran scheitern lassen, dass sich die Leute nicht über die präzise Gestalt einigen können. Wenn es in der Föderalisierung gewisse Rückschritte geben muss, kann das gut geschehen. Die Hauptsache ist, man bekommt wieder ein Bild von der Zukunft. Im Moment ist es so wie bei einem Schneegestöber ohne Scheibenwischer, man sieht nicht nach vorn. Es gibt nur Querelen. Wenn man ein Bild von der Zukunft hätte, wüsste man wieder, wie die Fahrtrichtung aussieht.
Das ausführliche Interview unter:
www.kleinezeitung.at/politik