„Politische Ränder operieren mit Angst“
INTERVIEW. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka über das Krisenjahr 1934, dessen historische Einordnung und die Spätfolgen für die österreichische Politik heute.
Herr Nationalratspräsident Sobotka, was war 1934 aus Ihrer Sicht: ein Bürgerkrieg, eine Schießerei, ein Aufstand?
1934 eindeutig zu definieren ist ein bisschen schwierig. Es hat sich herauskristallisiert, von Bürgerkrieg zu sprechen. Bürgerkrieg wäre aber eigentlich der Kampf zweier Gleichberechtigter. Trotzdem hat man es aufseiten der Sozialdemokratie so gesehen.
Sie sehen es nicht so?
Ich würde es nicht als Bürgerkrieg definieren. Es war die Durchsetzung eines autoritären Staatsbegriffs. Aus der Zeit heraus konnte man es als Niederwerfung eines Aufstands sehen, aus unserer Zeit heraus ist es das Durchsetzen eines autoritären Regimes mit militärischen, staatlichen Macht- und Gewaltmitteln. Bis heute wird dieses Ereignis aber unterschiedlich diskutiert und bewertet.
Ist dieser Bruch zwischen Sozialdemokratie und Christdemokraten heute noch zu spüren?
Ich denke, dass er grundsätzlich keine Rolle mehr spielt in der aktuellen politischen Themenlandschaft und bei den Menschen in unserem Land – vor allem nicht bei jüngeren Generationen. In der historischen Betrachtung natürlich sehr wohl.
Auch nicht, wenn der Kanzler mit Dollfuß verglichen wird?
Das ist Instrumentalisierung von Geschichte. Da spürt man, dass wir in der Darstellung dieser Zeit nicht auf einen Common Sense gekommen sind. Ich habe manches Mal den Eindruck, man versucht, bestimmten Regierungskonstellationen bewusst einen Stempel aufzudrücken. Mit den autoritären Strukturen des Nazi-Regimes wagt man diese dann doch nicht zu vergleichen. Also setzt man es zurück in die Zeit von Dollfuß.
Wie würden Sie das politische Klima im heutigen Österreich charakterisieren?
leben in einer Zeit, in der die politischen Ränder oft mit Angst operieren. Die einen argumentieren mit der Angst, egal ob das jetzt die Migration, Kriminalität oder gewisse supranationale Organisationen sind. Die anderen operieren mit der Angst: Alles demokratisch Erreichte steht plötzlich infrage. Dieses Spiel mit der Angst, die immer höhergeschraubt wird, um noch Aufmerksamkeit erregen zu können, ist fatal, weil es Bilder vermittelt, die in keiner Weise der Realität entsprechen.
Ist mehr Nüchternheit nötig?
Wenn man es nüchtern betrachtet und die Zahlen anschaut, zeigt sich vielfach ein nicht so dramatisches Bild. Etwa in der Frage der Armut: Die ist gesamt gesehen definitiv zurückgegangen. Das nimmt nur niemand zur Kenntnis. Jeder sagt: Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher. Das ist eine unzulässige Vereinfachung.
Die Schere geht weiter auf.
Ich glaube nicht, dass die Schere wirklich weiter auseinandergeht – aber es ist natürlich für den politischen Rand eine mobilisierende Argumentation. Es sollte uns kein Ruhekissen sein, aber es ging uns in Österreich noch nie so gut wie jetzt. Das spielt auch in der aktuellen Interpretation des Jahres 1934 eine Rolle. Man hat diese Angst im Hinterkopf, Österreich könnte wieder in autoritäre Strukturen zurückfallen.
Könnte es?
Erstens tut man den Opfern von damals wirklich unrecht, wenn man Dinge vergleicht, die wirklich beispiellos und unvergleichbar sind. Und zweitens negiert man, dass sich bei uns demokratische Strukturen bis in die kleinsten Verästelungen der Gesellschaft etabliert haben. Es ist noch nichts im Parlament beschlossen worden, das antidemokratisch wäre oder der Demokratie zuwiderlaufen würde. Sämtliche Beschlüsse, darauf achte ich als Nationalratspräsident, sind verfassungskonform.
Trotzdem hört man von beiden Seiten, von ÖVP wie von SPÖPolitikern, das Klima sei so schlecht wie lange nicht mehr. Warum?
Ich empfinde es nicht so, aber vielleicht liegt das an meiner Position – ich bin ja kein Regierungsmitglied. Ich habe zu allen Parteien eine fundierte, gute Beziehung. Ich weiß aber auch nicht, wie gut und intensiv der Kontakt früher war, als eine rot-schwarze Koalition regierte. Hat diese Kontakt zu den Stronachs, zur FPÖ, zu den Grünen besser gepflegt als heute? Ich weiß es nicht.
Nach dem Krieg gab es den Mythos der Lagerstraße, der von der Versöhnung der verfeindeten Lager Rot und Schwarz durch gemeinsames Leid im NS-Konzentrationslager spricht. Hat das den Konflikt nur überdeckt?
Sicher. Es hat auch dazu geführt, dass wir die Nazizeit nicht aufgearbeitet haben und es hat zum Mythos geführt, Österreich sei immer ein Opfer gewesen.
Ist nicht der Ständestaat noch viel weniger aufgearbeitet worden als die Nazizeit?
Das war auch mein Ansatz im Vorjahr. Mit dem Tag der Republik, dem Tag des Parlaments, dem 4. März, wollte ich das Bewusstsein darauf lenken, wie der Parlamentarismus damals unter die Räder gekommen ist. Wir müssen alles daransetzen, heute eine ordentliche Konfliktkultur zu entwickeln, einen Widerstreit der Ideen.
Warum ist die Konfliktkultur so schlecht ausgeprägt bei uns?
Weil der Österreicher ausgeWir prägte Konfliktsituationen nicht mag. In England, dem Mutterland der Demokratie, werden Konflikte viel radikaler ausgetragen. Wir haben ein ungeheures Bedürfnis nach Konsens und nach Harmonie. Wir können mit diesem Wechselspiel zwischen starker Opposition und starker Regierung nicht umgehen. Eine starke Opposition macht uns staunen und die klare Haltung einer Regierung gilt bald als stur oder autoritär.
Andreas Khol hat einmal von den „roten Gfrießern“geredet ...
... das halte ich für keinen guten Ausdruck ...
Die Jungtürkisen drücken ihre Geringschätzung höflicher aus.
Geringschätzung glaube ich nicht. Es ist eine klare Haltung. Vielleicht hat die ÖVP lange keine so klare Haltung gehabt wie jetzt. Dass sie sozialdemokratischen Thesen und Haltungen kritisch gegenübersteht, ist nach all den Erfahrungen mit der SPÖ in den Großen Koalitionen der letzten Jahre auch nachvollziehbar. Am Ende beruht das ja auch auf Gegenseitigkeit, wenn man es offen betrachtet.
Wo ist der Kern dieser Rivalität?
Im Wesentlichen geht es um die Einstellung zur Verantwortlichkeit des Individuums. Muss der Staat fürs Individuum immer sorgen, oder muss zuerst einmal das Individuum für sich sorgen und erst wenn es nicht mehr kann, den Staat rufen? Es geht um das Menschenbild. Kommt die Solidarität vor der Eigenverantwortung oder kommt die Eigenverantwortung vor der Solidarität?
Was war der Beitrag der SPÖ in der Nachkriegszeit?
Mit ganz großer Sicherheit ein Weitertreiben der sozialreformatorischen Ideen, die allerdings schon einen vorsozialdemokratischen Grund haben. Und die Neuformulierung bestimmter Rechte und Gesetze in der Periode Kreisky. Das hat aber schon mit Josef Klaus angefangen.
Warum ist die Große Koalition gescheitert?
Große Koalitionen funktionieren wahrscheinlich nur dann, wenn es große Herausforderungen gibt. Die großen Aufgaben haben wir weitestgehend erledigt.
Dann wurde es mühsam?
Keine Frage. Ich glaube, den Ausschlag hat gegeben, dass wir plötzlich eine klare Haltung an den Tag gelegt haben. Vorher hat man nur noch abgetauscht, nichts mehr ausdiskutiert.
Ist Tausch nicht das Prinzip jedes Kompromisses?
Es sind auch Kompromisse herausgekommen, die nicht positiv gewesen sind.
Ceta-Abkommen gegen Aufhebung des Rauchverbots war auch kein sehr guter Kompromiss.
Diese Problematik stellt sich in der Realität doch kaum mehr. Sie finden schon jetzt fast kein Gasthaus mehr, wo Sie rauchen können. Aber ich erinnere mich hier beispielsweise an das Sicherheitspolizeigesetz. Mit welcher Mühe man das damals mit der SPÖ verhandeln musste und wie schnell man heute Ergebnisse liefert! Es gab viele Dinge, die aus Bestemm heraus nicht gingen, und die ÖVP selbst hat in der damaligen Situation oftmals auch Linie vermissen lassen.
Sie war nicht zu führen?
Es fehlte die Haltung, um zu führen. Es war keine Führungsfähigkeit da, nur die Fähigkeit, irgendwie über die Runden zu kommen. Das kann für die Leute nicht attraktiv sein.