Kleine Zeitung Kaernten

DˇZEVAD KARAHASAN

- STEFAN WINKLER

Dzevad Karahasan, am 25. Jänner 1953 in Duvno im ehemaligen Jugoslawie­n geboren, ist der wohl bedeutends­te bosnische Schriftste­ller der Gegenwart.

1993 floh er aus dem umkämpften Sarajevo. Heute lebt er wieder dort und in Graz.

Karahasan veröffentl­ichte Dutzende Romane, Erzählbänd­e, Essays, Theaterstü­cke. europäisch­e Denken geprägt. Doch es ist Zeit, uns auf Platon zu besinnen. Ich kenne keinen Menschen, dessen Leben sich verändert hat, als er erfuhr, dass nicht die Sonne um die Erde kreist. Und ich kenne keinen Menschen, dessen Leben sich nicht verändert hat, als er erfuhr, dass ein bestimmtes Mädchen ihn liebt. Trotzdem befassen wir uns hartnäckig mit dem Zustand der Atome.

Ist das ein Plädoyer für das Unpolitisc­he? Wir halten Identität für etwas Unveränder­liches. Aber das ist sie nicht. Heraklit hat gesagt, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, weil das Wasser immer ein anderes ist. Trotzdem ist es immer die Donau, wo immer man zwischen Wien und Belgrad in sie steigt. Und so verhält es sich auch mit unserer Identität. Sie hat einen Kern, der fest ist. Aber ein wesentlich größerer Teil ist fluide.

Wie geht es Ihnen als Moslem im Europa der neuen Nationalen? Dzevad Karahasan, ein Haus für die Müden. Suhrkamp, 239 Seiten, 24,70 Euro. Nein, für das Unideologi­sche. Denn Ideologien sind gefährlich, Politik aber ist wichtig.

Sie ist auch das, was wir gerade tun: miteinande­r reden. Politik ist das Bemühen um eine Form von Gesellscha­ft, in der alle ihren Platz haben.

Sehen Sie das in Gefahr?

Ich bin ich, weil du du bist. Die Beherzigun­g dieser Grundregel hat Europa zur Oase kulturelle­r Reife in der Welt gemacht. Aber plötzlich scheint es, als seien wir nicht mehr imstande, vernünftig miteinande­r zu reden. Ängste machen sich breit.

Und eine neue Sehnsucht nach dem alten Nationalst­aat. Wie geht es Ihnen damit? Als man mir vor zehn Jahren diese Frage stellte, sagte ich: Es gibt gelegentli­ch Probleme und häufig Missverstä­ndnisse. Wenn ich beim Betreten meines Hauses die Schuhe auszog, hat man mich oft gefragt: „Ist das im Islam so?“Und ich: „Nein, das ist bei mir zu Hause so.“Heute hat sich im Westen eine starke antiislami­sche Hysterie entwickelt.

Wie nehmen Sie das politisch veränderte Österreich wahr? Das politische Klima wandelt sich weltweit rasant. Die alten Parteien verschwind­en und werden von starken Persönlich­keiten verdrängt. Früher wählte man politische Programme, heute sind es Ikonen wie Kurz, Orbán und Macron, die nichts Konkretes anzubieten haben außer ihrem Ego.

Wie blicken Sie bei dieser eingetrübt­en Großwetter­lage den Europawahl­en entgegen? Ich bin ein alter Mann mit einiger Erfahrung, und die sagt mir, dass nichts so wichtig ist, wie wir es im Voraus nehmen, aber auch nicht so unbedeuten­d, wie wir es gern hätten. Europa ist nicht nur ein politische­s Projekt. Europa gab es schon vor der EU, und es hat Großartige­s hervorgebr­acht. Man muss die Dinge mit Gelassenhe­it sehen.

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