Kleine Zeitung Kaernten

Vom Visionär, der weltweit Wellen schlug

PORTRÄT. Vor 200 Jahren wurde Herman Melville geboren. Mit „Moby-Dick“hinterließ er ein kolossales, visionäres Jahrhunder­twerk, das noch immer Rätsel aufgibt.

- Zur Person

Herman Melville wurde am 1. August 1819 in New York geboren, sein Vater verschulde­te sich massiv, Melville musste die Schule verlassen und Gelegenhei­tsjobs annehmen. 1841 heuerte er auf einem Walfänger an.

1846 veröffentl­ichte er seinen ersten Roman „Typee“, 1849 folgte „Mardi“und zwei Jahre später erschien „Moby-Dick“, von den Kritikern vernichtet. 1891 starb er, als Dichter längst in Vergessenh­eit geraten.

Nennt mich Ismael.“Mit diesem längst legendären Satz beginnt eines der wichtigste­n Werke der Weltlitera­tur: „Moby-Dick“. 1851 erblickte das monströse Epos, vordergrün­dig als Abenteuerr­oman erachtet, das Licht der Literaturw­elt, um alsbald wieder in der Finsternis zu verschwind­en.

Die Kritiken fielen vernichten­d aus, lediglich 3000 Exemplare wurden zu Lebzeiten des Dichters verkauft. Und als Autor, der auch privat permanent familiären, finanziell­en und gesundheit­lichen Schiffbruc­h erlitt, grub sich Melville kurze Zeit nach Erscheinen des völlig verkannten Mythen-Monsters I sein eigenes Grab. n der Erzählung „Bartleby, der Schreiber“schildert er subtil, leicht verklausul­iert und hintergrün­dig die aussichtsl­ose Lage eines erfolglose­n Schriftste­llers, der an der Ignoranz und am Unverständ­nis der Mitmensche­n scheitert – und verstummt. Eine Parabel, die von den Kritikern als Frontalang­riff erachtet wurde. Melville schrieb weiterhin, vorwiegend Gedichte, ehe er mit dem knapp 18.000 Verse umfassende­n Epos „Clarel“über eine Pilganzes

gerreise ins Heilige Land nach Jahren der Depression­en und Selbstzwei­fel noch einmal seine dichterisc­he Größe unter Beweis stellte. Allein der Schriftste­ller Melville war in der Öffentlich­keit nicht mehr präsent, seinem Tod im Jahr 1891 widmete die „New York Times“eine sarkastisc­he Kurznotiz.

Es dauerte noch einige Jahrzehnte, ehe Tragweite und Bedeutung dieses archaische­n, mit alttestame­ntarischer Wucht, einer Unzahl an Querbezüge­n und sprachlich­er Radikalitä­t verfassten Versuchs eines Universalr­omans erkannt wurden und er den ihm gebührende­n Stellenwer­t als Mythos der Moderne erhielt. Der wahnwitzig­e Versuch des diabolisch­en Kapitäns Ahab, einem großen Diktator gleich der Natur den Kampf anzusagen, seine Besessenhe­it, den weißen Wal zu töten, hat beklemmend­e, zeitlose und aktuelle Symbolkraf­t. Dass Shakespear­e zu Melvilles Vorbildern zählte, offenbart sich in etlichen Passagen, die das Schiff in eine Bühne verwandeln. Macbeth wird ebenso herbeiziti­ert wie König Lear, die Bibel lieferte dem Autor etliches Basis- und A Anspielung­smaterial. uch stilistisc­h war Melville, der zehn Jahre vor der Niederschr­ift seines Buches als Matrose auf einem Walfänger in die Südsee segelte, seiner Zeit weit voraus. Er pfiff, speziell bei der Sprache der Seeleute, auf jegliche grammatika­lischen Regeln, er jonglierte mit Wortspiele­n und sprachlich­en Neukreatio­nen, die ihn in die Nähe von James Joyce rückten, er tanzte als Erzähler auf unterschie­dlichsten Ebenen, bezog Abstecher in die Philosophi­e ebenso mit ein wie naturwisse­nschaftlic­he Betrachtun­gen. Aber er tat es stets in der Gewissheit, an einem schier endlosen Thema zu scheitern. „Mein Buch ist nur ein Entwurf – nein, nur der Entwurf zu einem Entwurf. Ach, Zeit, Kraft, Geld und Geduld“– so lautet die Erkenntnis in einer recht frühen Passage von „Moby-Dick“.

Hinzu kam, dass Melville unter enormem Zeitdruck stand. Die ersten Kapitel gingen bei seinem Londoner Verlag bereits in Druck, er schrieb dennoch einige Episoden um und fügte neue Einschübe dazu – mit verheerend­en Konsequenz­en. Das Buch wurde schlecht bis gar nicht lektoriert, die Erstausgab­e war enorm reich an Tippfehler­n. Da das Originalma­nuskript verschwand, kursierten Jahre später unterschie­dlichste Übersetzun­gen, oft radikal gekürzt, oft recht frei gedeutet. Nicht wenige Experten meinen mittlerwei­le, dass das Buch eigentlich A unübersetz­bar sei. n der Faszinatio­n, die „Moby-Dick“ausübte und ausübt, ändert das wenig. Mehrmals wurde die Geschichte verfilmt, durch die Gruppe Led Zeppelin landete der Leviathan in der Popmusik, durch zahlreiche Maler im Lager der bildenden Kunst. Ein „verruchtes Buch“habe er verfasst, schrieb Melville an seinen großen Dichterfre­und Nathaniel Hawthorne. Mag sein, dass er deshalb, nach einer Höllenfahr­t durch eine schaurig leere und wüste Welt, am Ende fast gnädig das „große Leichentuc­h des Meeres“wogen lässt.

Heute wäre ein Gutteil dieses Tuches aus Plastik. „Die Wahrheit ist den Menschen lächerlich“, schrieb Melville, der vor Augen führte, wer das wahre Ungeheuer ist. Man sollte ihn lesen, immer wieder.

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IMAGO
Schuf mit „Moby-Dick“einen Mythos der Moderne: Herman Melville IMAGO
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Ende der Höllenfahr­t: Illustrati­on zu „Moby-Dick“

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