Großes Kino in der Oper
Simon Stone erzählt in der Rarität „Médée“von Luigi Cherubini im Filmstil schlüssig eine heutige Familientragödie. Die Sopranistin Elena Stikhina brilliert in der Titelrolle.
Kindsmord durch die Mutter ist das unvorstellbarste aller Verbrechen. Zauberin Medea begeht ihn. Denn sie hat alles verloren: Vater, Bruder, Heimat, Ehe, Ehre, Hoffnung, Gesicht ... Die grausame Geschichte der Rächerin aus der Antike verarbeitete auch Luigi Cherubini – in der Oper „Médée“, über die Brahms sagte, sie sei das, „was wir Musiker als das Höchste in dramatischer Musik anerkennen“.
Das 1797 uraufgeführte Werk war bald in Vergessenheit verschwunden und erlebte erst durch Maria Callas in der Titelrolle ab 1953 eine Renaissance. Trotzdem blieb der Dreiakter eine Rarität, die heuer die Salzburger Festspiele auf den Spielplan zu setzen wagten. Gewagt, gewonnen. Denn Simon Stone weiß nach seinem umjubelten „Lear“von Aribert Reimann 2017 einen weiteren starken Akzent zu setzen. Der australischschweizerische Regisseur hatte im Vorfeld die psychologisierende Charakterstudie einer Frau versprochen, die um Lebenssinn kämpft und „auf der ganzen Welt eine Fremde ist“, wie es in einer Arie der Medea heißt. Versprochen, gehalten.
Der 34-Jährige transponiert die Odyssee dieser um alles gebrachten Asylantin so radikal
wie schlüssig in die Jetztzeit. Ein im Salzburger Kaiviertel und am Fuschlsee gedrehter Schwarz-Weiß-Film erzählt zu Beginn die Vorgeschichte des Dramas: Szenen einer Ehe und Szenen einer Scheidung, die später weiter eingestreut werden. Hinzu fügt er die Versuche der modernen Medea, mit Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ihren früheren Mann Jason zurückzugewinnen.
Bob Cousins baute Bilder ins Große Festspielhaus, die in ihrem Cinemascope-artig nebeneinanderoder übereinandergestellten Schauplätzen das Filmische auf der Bühne fortsetzen. Ob Hotellobby, Internetcafé, Flughafenhalle, Erotikclub mit Poledancerinnen, Wohnzimmer oder Bad, wo sich eine von Jason aufgegabelte Hure duscht: großes Kino. Und die Mythologie geht mit dem Heute bruchlos zusammen. Wenn Medea am Ende ihre zwei Söhne und sich selbst in einem Auto an einer Tankstelle verbrennt, heißt das: Betrug, Wut, Rache, Gewalt, Machtspiele und Familientragödien sind immer und überall.
Für „Médée“, laut Stone „das älteste Immigrantendrama der Welt“, fand Thomas Hengelbrock einen stimmigen „Soundtrack“. Mit den Wiener Philharmonikern und dem Staatsopernchor leuchtete der deutsche Dirigent bei der Premiere in die finstersten Ecken der „außerordentlich modernen und psychologisch durchdachten Partitur“, wie er sie nennt. Gab es am Anfang der zwei Stunden Musik noch einige kleine Wackelkontakte hin zum Podium,
so lieferte der 61-Jährige mit den animierten Wienern in der Folge pastose Breitwandklänge, aber auch feine Ziselierungen.
Gute Leistungen im von Mel Page stilsicher eingekleideten Ensemble boten Rosa Feola als Medeas Rivalin Dircé, Vitalij Kowaljow als König Créon und Pavel Cˇ ernoch als Jason mit etwas eng mensuriertem Tenor. Elena Stikhina überragte alle bei Weitem. Die 32-jährige Sopranistin aus dem Ural, für die schwangere Sonya Yoncheva eingesprungen, lieferte sängerisch wie darstellerisch ein unter die Haut gehendes Psychogramm einer Frau, die durch Fremd- wie Eigenverschulden nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren hat. Riesenjubel mit ein paar Buh-Sprengseln für eine imposante, mutige Produktion.