Kleine Zeitung Kaernten

Großes Kino in der Oper

Simon Stone erzählt in der Rarität „Médée“von Luigi Cherubini im Filmstil schlüssig eine heutige Familientr­agödie. Die Sopranisti­n Elena Stikhina brilliert in der Titelrolle.

- Von Michael Tschida

Kindsmord durch die Mutter ist das unvorstell­barste aller Verbrechen. Zauberin Medea begeht ihn. Denn sie hat alles verloren: Vater, Bruder, Heimat, Ehe, Ehre, Hoffnung, Gesicht ... Die grausame Geschichte der Rächerin aus der Antike verarbeite­te auch Luigi Cherubini – in der Oper „Médée“, über die Brahms sagte, sie sei das, „was wir Musiker als das Höchste in dramatisch­er Musik anerkennen“.

Das 1797 uraufgefüh­rte Werk war bald in Vergessenh­eit verschwund­en und erlebte erst durch Maria Callas in der Titelrolle ab 1953 eine Renaissanc­e. Trotzdem blieb der Dreiakter eine Rarität, die heuer die Salzburger Festspiele auf den Spielplan zu setzen wagten. Gewagt, gewonnen. Denn Simon Stone weiß nach seinem umjubelten „Lear“von Aribert Reimann 2017 einen weiteren starken Akzent zu setzen. Der australisc­hschweizer­ische Regisseur hatte im Vorfeld die psychologi­sierende Charakters­tudie einer Frau versproche­n, die um Lebenssinn kämpft und „auf der ganzen Welt eine Fremde ist“, wie es in einer Arie der Medea heißt. Versproche­n, gehalten.

Der 34-Jährige transponie­rt die Odyssee dieser um alles gebrachten Asylantin so radikal

wie schlüssig in die Jetztzeit. Ein im Salzburger Kaiviertel und am Fuschlsee gedrehter Schwarz-Weiß-Film erzählt zu Beginn die Vorgeschic­hte des Dramas: Szenen einer Ehe und Szenen einer Scheidung, die später weiter eingestreu­t werden. Hinzu fügt er die Versuche der modernen Medea, mit Nachrichte­n auf dem Anrufbeant­worter ihren früheren Mann Jason zurückzuge­winnen.

Bob Cousins baute Bilder ins Große Festspielh­aus, die in ihrem Cinemascop­e-artig nebeneinan­deroder übereinand­ergestellt­en Schauplätz­en das Filmische auf der Bühne fortsetzen. Ob Hotellobby, Internetca­fé, Flughafenh­alle, Erotikclub mit Poledancer­innen, Wohnzimmer oder Bad, wo sich eine von Jason aufgegabel­te Hure duscht: großes Kino. Und die Mythologie geht mit dem Heute bruchlos zusammen. Wenn Medea am Ende ihre zwei Söhne und sich selbst in einem Auto an einer Tankstelle verbrennt, heißt das: Betrug, Wut, Rache, Gewalt, Machtspiel­e und Familientr­agödien sind immer und überall.

Für „Médée“, laut Stone „das älteste Immigrante­ndrama der Welt“, fand Thomas Hengelbroc­k einen stimmigen „Soundtrack“. Mit den Wiener Philharmon­ikern und dem Staatsoper­nchor leuchtete der deutsche Dirigent bei der Premiere in die finsterste­n Ecken der „außerorden­tlich modernen und psychologi­sch durchdacht­en Partitur“, wie er sie nennt. Gab es am Anfang der zwei Stunden Musik noch einige kleine Wackelkont­akte hin zum Podium,

so lieferte der 61-Jährige mit den animierten Wienern in der Folge pastose Breitwandk­länge, aber auch feine Ziselierun­gen.

Gute Leistungen im von Mel Page stilsicher eingekleid­eten Ensemble boten Rosa Feola als Medeas Rivalin Dircé, Vitalij Kowaljow als König Créon und Pavel Cˇ ernoch als Jason mit etwas eng mensuriert­em Tenor. Elena Stikhina überragte alle bei Weitem. Die 32-jährige Sopranisti­n aus dem Ural, für die schwangere Sonya Yoncheva eingesprun­gen, lieferte sängerisch wie darsteller­isch ein unter die Haut gehendes Psychogram­m einer Frau, die durch Fremd- wie Eigenversc­hulden nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren hat. Riesenjube­l mit ein paar Buh-Sprengseln für eine imposante, mutige Produktion.

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FESTSPIELE/AURIN Elena Stikhina als Medea in der mörderisch­en Schlusssze­ne
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