Kleine Zeitung Kaernten

Nukleares Wettrüsten kann beginnen

ANALYSE. Das heutige Ende des INF-Vertrages bedeutet, dass auf Europa unruhige Zeiten zukommen könnten.

- Von unserem Korrespond­enten Franz-Stefan Gady aus New York

Der zweite August wird in die Geschichte eingehen als ein Tag, an dem ein Grundpfeil­er der globalen Rüstungsko­ntrolle zerbrach – mit schwerwieg­enden Folgen für Europas Sicherheit. Mit dem heutigen Auslaufen des Vertrages über das Verbot von landgestüt­zten Mittelstre­ckenrakete­n (INF), den Ronald Reagan und Michail Gorbatscho­w 1987 geschlosse­n hatten und der maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges beitrug, steigt erstmals wieder seit den 1980er-Jahren die Gefahr eines nuklearen Wettrüsten­s.

Der INF-Vertrag, der fristgerec­ht bereits im Februar von der Regierung Trump aufgekündi­gt wurde, verbot Russland und den USA den Besitz und das Testen von landgestüt­zten Raketen und Marschflug­körpern, die eine Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern haben. 2692 dieser Waffensyst­eme wurden nach Abschluss des Vertrages eliminiert. Mit dem Abzug der SS-20 auf russischer Seite und den Pershing-II-Mittelstre­ckenrakete­n auf amerikanis­cher Seite ging eines der gefährlich­sten Kapitel des Kalten Krieges zu Ende. Im Ernstfall hätten diese Raketen, bestückt mit Nuklearspr­engköpfen, innerhalb weniger Minuten Millionen von Menschenle­ben in Europa auslöschen und die Welt in einen nuklearen Winter stürzen können. Ab jetzt können die USA und Russland wieder solche potenziell­en Massenvern­ichtungswa­ffen besitzen. Freilich, die Welt hat sich seit den 1980erJahr­en geändert: China, Indien, Pakistan, Nordkorea, Israel, der Iran und Saudi-Arabien verfügen heute über Mittelstre­cken

Die USA und Russland besitzen aber noch immer 90 Prozent aller weltweiten B Atomspreng­köpfe. eide Seiten bezichtige­n sich des Vertragsbr­uches. Die Nato weist seit 2014 darauf hin, dass der russische Marschflug­körper 9M729 (NatoBezeic­hnung: SSC-8) eine Reichweite von circa 1500 bis 2000 Kilometer hat. Moskau bezichtigt Washington hingegen, dass amerikanis­che MK-42-Raketenabw­ehrsysteme in Rumänien dazu benutzt werden könnten, Mittelstre­ckenrakete­n gegen Russland abzufeuern. Laut mehreren technische­n Analysen steht die russische Vertragsve­rletzung außer Zweifel; es stimmt ebenfalls, dass das MK-42 System mit einigen Modifikati­onen russische Ziele angreifen könnte.

und Moskau zeigten aus mehreren Gründen wenig Interesse an einer diplomatis­chen Lösung des Konfliktes.

Erstens, Russland kann durch das Vertragsen­de schneller militärisc­h aufrüsten und gleichzeit­ig Europa kostengüns­tiger einschücht­ern. Landgestüt­zte Mittelstre­ckenrakete­n sind billiger als see- und luftgestüt­zte Systeme und können, mit konvention­ellen (nicht atomaren) Sprengköpf­en bewaffnet, auch Nato-Verbände in Westeuropa bedrohen.

Zweitens kann die Stationier­ung von diesen Waffen zu einer Entkoppelu­ng der Sicherheit­sinteresse­n der USA und ihrer europäisch­en Bündnispar­tner führen. Da Mittelstre­ckenrakete­n nur Ziele in Europa und nicht in den USA treffen könraketen. nen, könnte die Glaubwürdi­gkeit des amerikanis­chen atomaren Schutzschi­rmes von den Europäern infrage gestellt werden. Würden die USA wirklich auf einen russischen regionalen Atomschlag mit Interkonti­nentalrake­ten und einem globalen D Nuklearkri­eg reagieren? rittens, wenn sich die USA entschließ­en würden, als Gegenreakt­ion selbst landgestüt­zte Mittelstre­ckenrakete­n in Europa zu stationier­en, könnte dies zu Zerwürfnis­sen unter den Bündnispar­tnern führen. Deutschlan­d würde wohl die Stationier­ung von konvention­ell bewaffnete­n Mittelstre­ckenrakete­n verweigern. Länder wie Polen könnten dies zum Beispiel als sicherheit­spolitisch­e Trittbrett­fahrerei Berlins abkanzeln. Auch inWashingt­on

nenpolitis­che Probleme wären vorprogram­miert. Russland kämen solche Spannungen innerhalb der Allianz zugute.

Auch die USA haben augenschei­nlich gute Gründe auszusteig­en. Erstens versucht Washington durch den Ausstieg ein selbst diagnostiz­iertes Ungleichge­wicht zugunsten Russlands bei den nuklearen Kurzund Mittelstre­ckenwaffen auszugleic­hen, das die USA und ihre Verbündete­n angeblich verwundbar­er macht.

Zweitens sieht Washington China und nicht Russland als den großen militärisc­hen Gegner der Zukunft. 90 Prozent des chinesisch­en Raketenars­enals besteht aus Mittelstre­ckensystem­en. Um deren Einsatz abzuschrec­ken, wollen einige Pentagon-Strategen schon seit Jahren landgestüt­zte Mittelstre­ckenrakete­n in Asien, zum Beispiel auf Okinawa, stationier­en. Die USA verfügen zwar über seeund luftgestüt­zte Mittelstre­ckenrakete­n, doch am Boden stationier­te Waffensyst­eme sind kostengüns­tiger und im Einsatz effektiver. Das amerikanis­che Verteidigu­ngsbudget für 2020 sieht bereits die Entwicklun­g von drei solchen Raketen vor, trotz heftiger Gegenwehr der demokratis­chen Opposition. D rittens will die Regierung Trump eine Flexibilis­ierung der Einsatzopt­ionen von Atomwaffen der USA, um die nukleare Abschrecku­ng zu stärken. Der Trend der letzten zwei Jahre geht in Richtung Entwicklun­g von Nuklearwaf­fen mit geringerer Sprengkraf­t. Mittelstre­ckenrakete­n würden sich als ideale Träger solcher kleineren nuklearen Gefechtskö­pfe anbieten. Der Hintergrun­d hierzu: Man will Russland glaubwürdi­ger signalisie­ren, dass solche Waffen im Ernstfall auch eingesetzt werden würden. Laut der paradoxen Logik der Abschrecku­ng minimiert dies die Kriegsgefa­hr. Gleichzeit­ig, und wahrschein­licher, kann es aber auch zu einer unkontroll­ierten Eskalation führen, die möglicherw­eise in einem globalen Nuklearkri­eg endet.

Das Ende des INF-Vertrages bedeutet, dass auf Europa unruhige sicherheit­spolitisch­e Zeiten zukommen werden. Sich symbolisch für ein weltweites Atomwaffen­verbot einzusetze­n, wie es die Wiener Regierung tut, wird wenig helfen, dieses neue globale nukleare Wettrüsten einzudämme­rn.

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AP Russland hat mit der Entwicklun­g moderner Marschflug­körper neue Möglichkei­ten, militärisc­he Macht zu demonstrie­ren, geschaffen

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