Kleine Zeitung Kaernten

„Migrations­debatte ist voller Klischees“

Der Migrations­experte Gerald Knaus hat die Basis für das EU-Türkei-Abkommen gelegt. Er plädiert dafür, sich die gesammelte­n Erfahrunge­n für Lösungen genau anzuschaue­n. Und endlich mit ideologisc­hen Spiegelgef­echten aufzuhören.

- INTERVIEW. Von Ingo Hasewend

Herr Knaus, am 27. September wird in Österreich gewählt. Politiker fast aller Parteien sprechen sich dafür aus, dass gehandelt werden muss. Änderungen fordern allein reicht nicht. Was muss passieren?

GERALD KNAUS: Wir brauchen eine realistisc­he Debatte aufbauend auf den Erfahrunge­n der letzten Jahre. Wir hatten zu viele Vorschläge, die nicht durchdacht waren, weil sie die Interessen derjenigen, auf die es ankam, nicht berücksich­tigten. So drehen wir uns seit Jahren im Kreis.

Nennen Sie ein Beispiel?

Bei der Seenotrett­ung wird oft gesagt: Es wäre besser, wenn Menschen, die Europa über das Mittelmeer erreichen, in sichere Länder zurückgebr­acht werden könnten, damit sich niemand mehr auf den Weg begibt. Das ist theoretisc­h richtig und lag dem EU-Türkei-Abkommen zugrunde. Nur hilft Theorie nicht, wenn man geltendes Recht und die Interessen Betroffene­r nicht berücksich­tigt.

Wie lautet das geltende Recht?

Bevor jemand aus Europa in ein Drittland gebracht werden kann, muss er die Möglichkei­t bekommen, einen Asylantrag zu stellen. Dann muss vor der Abschiebun­g der Nachweis erbracht werden, dass im Drittland keine Gefahr droht – auch nicht die, von dort ohne Verfahren weitergesc­hoben zu werden. In jedem Einzelfall muss schnell entschiede­n werden, ob ein Drittland sicher ist. Wer heute Vorschläge zur Rückführun­g nach Nordafrika macht, sollte erklären, wie wir das auf den griechisch­en Inseln hinbekomme­n. Dort gelingt es der EU seit drei Jahren nicht.

Die Türkei ist seit drei Jahren immerhin zur Kooperatio­n bereit.

Ja. Im Gegensatz zu Tunesien haben die Türken der EU vorgeschla­gen, Leute zurückzune­hmen, wenn sie dafür etwas bekommen. Wenn wir Tunesien zur Kooperatio­n bewegen wollen, muss die EU mit Tunis darüber reden, was deren Interessen wären. Nur zu sagen, dass es doch Länder in Nordafrika geben könnte, in die man aus Seenot Gerettete zurückbrin­gen sollte, und nicht zu erklären, wie die rechtliche­n, politische­n und logistisch­en Hürden für so eine Kooperatio­n überwunden werden, ist ein Bluff, keine seriöse Diskussion.

Was müsste man also tun?

Die EU könnte Tunesien ein Angebot machen wie vor zehn Jahren der Ukraine oder 2016 der Türkei. Wenn Tunis eigene Bürger sowie Drittstaat­ler zurücknimm­t und humane Behandlung und faire Asylverfah­ren garantiere­n kann, würde die EU visafreies Reisen für tunesische Touristen anbieten. Das wäre ein ernsthafte­s Angebot. Ein solches würde auch in Marokko die Debatte ändern.

Ist es in der EU überhaupt mehrheitsf­ähig, Marokkaner­n eine visafreie Einreise zu ermögliche­n?

Heute noch nicht. Das ist die zweite Seite einer oft unseriösen Debatte: Jeder Vorschlag muss Mehrheiten und Regierunge­n in Europa überzeugen. Fragen: Was wären Bedenken der Innenminis­ter? Wäre das Asylsystem überforder­t, wenn viele Marokkaner einen Antrag stellen? Was müsste dafür zunächst geschehen? Doch diese Fragen sind lösbar, das zeigt die Erfahrung mit der Ukraine.

Auch für Marokko?

Ja. Das Ziel der EU muss es doch sein, dass es in der Welt, auch rund um Europa, mehr Staaten gibt, die sichere Drittstaat­en sind. Noch einmal zur Ukraine: Diese hat 42 Millionen Einwohner, Marokko 35 Millionen. Die Ukraine hat ein geringeres Prokopfein­kommen als Marokko. Zudem ist in der Ukraine Krieg. Dennoch hat die EU vor zwei Jahren die Visapflich­t aufgehoben, trotzdem hat sich die Zahl der Asylanträg­e im Vergleich zu 2014 halbiert. Die Ukrainer nehmen auch schnell jeden zurück, der keine Aufenthalt­serlaubnis hat. So wurde die polnischuk­rainische Grenze jene EUAußengre­nze, über die wir am wenigsten reden.

Woran hakt es in der Debatte?

Die Grundfrage­n sind zwei: Wie überzeugt man andere, die man braucht? Und wie setzt man Ideen um? Seit zehn Jahren beschäftig­e ich mich mit der Frage, wie man Innenminis­terien von offenen Grenzen überzeugt. Seit 2010 hat die EU die Visapflich­t für 100 Millionen arme Europäer aufgehoben. Dazu musste aber viel geschehen. Was nichts nützt, sind ideologisc­he Forderunge­n,

scheinbar einfache Lösungen wie „Schicken wir alle zurück“, ohne Erklärung, wie. „Mehr legale Wege“ohne Erklärung, wen man davon wie überzeugen kann. Abstrakte Debatten und apodiktisc­he Positionen verhindern auch, dass wir bei der Seenotrett­ung erkennen: Wir müssen retten. Aber wir dürfen nicht mehr Leute auf das Meer locken. Der Ausweg liegt in Partnersch­aften und in besserer Diplomatie.

War das Dublin-Verfahren ein Fehler, wenn man auf Rom schaut?

Ein sich immer noch haltendes Klischee in der Diskussion über Migration ist, dass Dublin unfair ist und die Ursache für Probleme in Italien. Wenn wir in den vergangene­n zehn Jahren Dublin ersetzt hätten mit einem System wie in Deutschlan­d, wo Asylwerber unter Bundesländ­ern mit einem fixen Schlüssel verteilt werden, hätte Italien in allen Jahren außer 2016 und 2017 Menschen aus Nordeuropa zurücknehm­en müssen. Doch tatsächlic­h haben selbst Dublin-Überstellu­ngen nach Italien nie funktionie­rt. 2018 lagen die Asylanträg­e schon wieder weit unter dem, was Italiens Anteil bei einer fairen Verteilung in der EU wäre. Das gilt auch für andere Mittelmeer­länder. Das Problem von Dublin war nie deren Benachteil­igung. Und das Land, das im letzten Jahrzehnt pro Kopf die meisten Asylanträg­e hatte, war Schweden. Und das ist am weitesten von den Außengrenz­en entfernt. Wir bräuchten endlich eine Diskussion, die auf Fakten und nicht auf Klischees aufbaut. Und auf Ehrlichkei­t. Das Interesse von Österreich und Deutschlan­d ist es, irreguläre Migration zu reduzieren, durch humane Grenzen, wo weniger Menschen sterben. Um das zu erreichen, brauchen wir Partner.

Wer wäre das konkret?

2018 kamen 60.000 Menschen über das Meer nach Spanien, eine Rekordzahl. Neben Marokkaner­n kamen vor allem Westafrika­ner. Niemand von ihnen stellte einen Asylantrag, weil bis auf die Marokkaner alle wussten, sie würden ohnehin in Spanien bleiben können, denn es gab nach Westafrika praktisch keine Rückführun­gen. Gäbe es für Menschen, die über den Zaun in Melilla und Ceuta klettern, die Aussicht auf schnelle Verfahren und die Wahrschein­lichkeit, schnell in das Heimatland abgeschobe­n zu werden, könnte man den Stacheldra­ht abnehmen. Gäbe es dazu legale Migrations­möglichkei­ten, umso mehr. An diesem Dreiklang aus schnellen Verfahren, attraktive­n Abkommen mit Nachbarsta­aten und Ursprungsl­ändern und dann einem Verteilsch­lüssel für die wirklich Schutzbedü­rftigen hätte die EU arbeiten müssen. Und müsste es heute auch.

Ist es denn sinnvoll, Seenotrett­er zu unterbinde­n, um einen Magneteffe­kt zu verhindern?

Dass wir in Europa im Jahr 2019 darüber diskutiere­n, ob man Leute in Seenot sterben lassen sollte, oder darüber, jene, die in der Zivilgesel­lschaft Geld sammeln, um freiwillig zur Rettung auf See zu fahren, durch Strafen davon abhalten zu wollen, ist ein dramatisch­es Zeichen, wie viel hier schiefgela­ufen ist. Seenotrett­ung ist ein Gebot, das selbst im Krieg gilt, wo die feindliche Besatzung eines versenkten Schiffes aufgenomme­n werden muss. Heute gibt es auch kaum noch große Bewegungen über das Mittelmeer. Wir müssen retten – aber wir müssen auch zugeben, Rettung alleine verhindert nicht, dass Menschen sterben.

Wo müssen wir ansetzen?

Konkret sollten wir vier Dinge sofort tun. Erstens: Jede Unterstütz­ung für Libyen davon abhängig machen, dass jeder, den die libysche Küstenwach­e zurückbrin­gt, schon am Hafen an UNHCR und IOM übergeben und nicht in Lager gebracht wird. Im ersten Halbjahr 2019 waren das weniger als 4000 Menschen. Zweitens: Diesen helfen, diese Menschen und alle, die jetzt in Lagern sind – derzeit weniger als 6000 Menschen –, aus Libyen heraus in andere sichere Länder zu bringen, wie Niger oder Ruanda. Drittens: Von dort jene, die keinen Schutz brauchen, mit IOM in die Heimatländ­er zurückbrin­gen und Schutzbedü­rftige umverteile­n. Da kann sich auch Österreich beteiligen. Und viertens: Jene, die von Schiffen gerettet werden – derzeit einige Hundert pro Monat –, nach Malta bringen und unter einer Koalition von Willigen in Europa aufteilen. Und auch Österreich könnte sich beteiligen.

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