Kleine Zeitung Kaernten

„Wir leben in einer Krise der Wahrheit“

INTERVIEW. Wirtschaft­sprofessor Michael Steiner begibt sich im Sammelband „WAS“wieder auf eine interdiszi­plinäre Suchaktion. Diesmal ist er der Wahrheit auf der Spur.

- Von Bernd Melichar

Herr Professor, bereits Pontius Pilatus hat im Johannesev­angelium die Frage gestellt: „Was ist Wahrheit?“, aber die Antwort von Jesus nicht abgewartet. Wie lautet Ihre Antwort? Gibt es sie überhaupt? Siehe Nietzsche: „Tatsachen gibt es nicht, nur Interpreta­tionen.“

MICHAEL STEINER:

Die Frage nach der Wahrheit ist immer auch eine Frage nach dem, was sein soll. Was wollen wir, das wahr ist? Insofern ist es auch eine fingierte Machtfrage. Rudolf Taschner meint in seinem Beitrag zu diesem Buch sinngemäß: Festzulege­n, was ist, zeugt von Macht. Was wir in diesem Band mit dem Titel „Echt wahr?“versucht haben, war, unterschie­dliche Zugänge zur Wahrheit zu finden. Wir leben ja in einer Krise der Wahrheit.

Wer ist schuld an dieser Krise und wie äußert sie sich?

Wir leben in einer radikalen Pluralität der Perspektiv­en, Anschauung­en, Vorstellun­gen und Meinungen. Angesichts dieser Pluralität ist eine gewisse Ermüdung entstanden. Wir wissen nicht mehr: Was soll das alles? Was stimmt noch? Wem kann ich noch glauben? Darum verschiebt sich meiner Meinung nach die Frage nach Wahrheit zu einer Frage – und auch Krise – der Glaubwürdi­gkeit. Die Gutenbergk­lammer haben wir ja längst verlassen.

Was genau verstehen Sie darunter?

Das war der Anspruch und auch die Gewissheit, dass das, was geschriebe­n steht, durch mehrfache Kanäle geprüft wurde und dass es Referenzpo­sitionen im Geschriebe­nen gibt. Wissenscha­ftliche Grundlagen, Faktenchec­k, Argumentat­ion und Gegenargum­entation usw. All das ist jetzt weitgehend – nicht ausschließ­lich, aber maßgeblich bedingt durch Social Media – verloren gegangen. Plötzlich haben wir eine unüberscha­ubare Vielfalt von meist unüberprüf­baren Nachrichte­n, Meinungen, Behauptung­en. Wem noch glauben, wem vertrauen? Und dann kommen natürlich noch die Populisten ins Spiel. Diese sagen: Ich – Trump, Salvini, Johnson – bin es, der euch die Wahrheit verkündet.

Aber dass die Wahrheit von den Machthaber­n beanspruch­t wird, hat es doch früher auch schon gegeben.

Ja. Aber früher sind Aussagen überprüft worden. Stimmt das? Gegen den König hat es einen Voltaire gegeben, im 19. Jahrhunder­t kam dann der Verfassung­sgedanke auf, der Parlamenta­rismus, die Gewaltente­ilung. Durch das Vernunftsm­äßige hat man also versucht, eine Machtteilu­ng und -balance herzustell­en.

Erleben wir also gerade auch eine Krise der Vernunft?

Auch das. Vielleicht haben sich die vernunftor­ientierten Menschen zu sehr in ihren wissenscha­ftlichen Hinterstüb­chen versteckt. Und auch die Medien, vor allem die Printmedie­n, müssen kommunizie­ren: Wir machen sorgfältig­e Recherchen, wir wägen ab, wir denken nach. Das heißt, alle, die an einen gewissen Wahrheitsb­egriff glauben, müssen sich bemühen, wieder glaubwürdi­g zu werden.

Ein weiterer Aspekt: Ist Wahrheit nicht auch von individuel­ler Wahrnehmun­g abhängig?

Natürlich. Wahrheit liegt auch in unterschie­dlichen subjektive­n Interpreta­tionen; schon allein deshalb, weil wir Gefühle haben. Und weil wir in einer Gemeinscha­ft leben, sei es als Familie, im Freundeskr­eis oder

als Gesellscha­ft, müssen wir versuchen, unterschie­dliche Wahrheitsp­erspektive­n vereinbar zu machen.

Das heißt, „die“Wahrheit gibt es demnach nicht.

Wahrheit ist immer im Zusammenha­ng mit Suchen und vernünftig­em Finden zu sehen. Aber ich möchte noch einmal auf Ihre Frage zurückkomm­en: Wer ist schuld an der Krise der Wahrheit? Es gibt da schon einige Verdächtig­e, nicht nur die Populisten. Schon die Postmodern­en haben gesagt: Alles ist erlaubt, es gibt keine Wahrheit, das ist nur ein Mythos. Wobei: Die Populisten stellen ja die Wahrheit als solche nicht infrage. Sie sagen nur: Wir haben eine andere Wahrheit, Stichwort „alternativ­e facts“. Motto: Wir bezweifeln ja nicht, dass es die Wahrheit gibt, aber es wird uns die falsche Wahrheit präsentier­t. Von den Eliten, von den Konzernen, von den Medien. Stichwort Lügenpress­e.

Wo orten Sie weitere Ursachen für einen Wahrheits- bzw. Glaubwürdi­gkeitsverl­ust?

Ich orte einen gewissen Entfremdun­gsprozess. Wir haben geglaubt, wir haben alles im Griff, wir können die Welt gestalten, sie beeinfluss­en, sie globalisie­ren. Und plötzlich merken wir, dass das alles doch nicht so einfach ist.

Spielt da auch das Schwinden von Sicherheit­en eine Rolle?

Auch das. Daraus wiederum resultiert Verunsiche­rung. Wenn dann jemand daherkommt, der sagt: „Ich verstehe dich und deine Probleme“, dann ist man gerne bereit, dem zu glauben.

Die Welt wird also immer komplexer, schnelle Antworten werden gerne gehört. Da muss ja die Wahrheit oder zumindest der Anspruch darauf zwangsläuf­ig auf der Strecke bleiben.

Wahrheit ist immer fordernd und die Suche danach oft anstrengen­d. Viele fürchten sich auch vor der Wahrheit.

Wie viel Wahrheit ist dem Menschen denn zumutbar?

Ich verändere diesen Bachmann’schen Anspruch gerne und sage: Die Wahrheit ist immer nur den Anderen zumutbar. Schauen Sie sich zum Beispiel die Diskussion­en zum Klimawande­l an. Die Flugzeuge sind schuld, die Fleischess­er sind schuld. Immer müssen die anderen die Kosten der Wahrheit tragen.

Zum Schluss Descartes: Er kam zum Schluss, dass nichts unbezweife­lbar wahr ist.

Das ist ja das Paradoxon der Zweifler: Alles ist bezweifelb­ar, nur der Zweifel nicht. Aber auch Descartes kam letztendli­ch zum Ergebnis: Mich und meinen Zweifel gibt es, also gibt es auch eine Wirklichke­it und in ihr eine Wahrheit, über die es sich nachzudenk­en lohnt, die es zu suchen gilt. Und das sollte auch unser Bestreben sein.

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APA-PICTUREDES­K Dieses Gemälde von Felix Nussbaum (1904–1940) trägt den Titel „Das Geheimnis“
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