Die Krise der Glaubwürdigkeit
Die Überlegung, dass im Innersten der Wahrheitskrise ein Glaubwürdigkeitsdiskurs steckt, lässt sich an Beispielen durchspielen: Klimawandel-Leugner bestreiten nicht, dass es Wahrheit gibt, sondern stellen die Glaubwürdigkeit von Wissenschaftlern infrage (weil sie „politischen Akteuren zuarbeiten“). Impfgegner bestreiten nicht, dass es Wahrheit gibt, sondern
halten
Ärzte und Experimente für unglaubwürdig (weil sie „von Konzernen bezahlt“werden). Pegida-Demonstranten bestreiten nicht, dass es Wahrheit gibt, sondern bezweifeln die Glaubwürdigkeit der Medien (da sie „von Merkel gesteuert“sind). Ihre „Lügenpresse“-Rufe sind kein Ausdruck für radikale Wahrheitsskepsis, sondern für den Kampf um den epistemisch und sozial so wertvollen Rohstoff Glaubwürdigkeit. Der Bedarf an dieser Ressource jedenfalls nimmt nicht ab, weil weiterhin Bedarf an Orientierung besteht. Die Frage, worauf man sich verlassen kann, verschwindet gerade in unsicheren Zeiten nicht. Vielleicht mag man die Krise der Wahrheit auch als Erschöpfungszustand deuten: Die Ermüdung in Sachen Wahrheit rührte dann aus der Ermüdung angesichts der radikalen Pluralität von Perspektiven. Die Probleme der Kirchen verbinden sich mit jenen von großen Medienhäusern, solche von Parteien mit jenen demokratischer Institutionen. Sie alle stehen nicht allein vor der Herausforderung, belastbare Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart zu finden, sie stehen auch vor der Frage nach Glaubwürdigkeit und Vertrauen: Wie lässt sich dieses so feine, ermüdete Gewebe des Sozialen bewahren? Wie lässt es sich pflegen? Und wie können wir Risse darin wieder vernähen?