Kleine Zeitung Kaernten

„Zweckehe, aber Chance für Italien“

INTERVIEW. Lucrezia Reichlin, in ihrer Heimat Italien als Finanzmini­sterin im Gespräch, über die Chancen und Herausford­erungen der geplanten neuen Regierung Conte.

- Von Adolf Winkler

Die Expertise von Lucrezia Reichlin kann sich sehen lassen. Die in Rom gebürtige Professori­n an der London Business School war 2005 bis 2008 Direktorin der Europäisch­en Zentralban­k in Frankfurt im Ressort General Research. In Mailand saß sie im Aufsichtsr­at der Unicredit. In Alpbach galt ihr auch aus akutem Grund hohe Aufmerksam­keit.

In italienisc­hen Medien werden Sie als neue Finanzmins­terin gehandelt. Hat Giuseppe Conte Sie schon aus Rom angerufen?

LUCREZIA REICHLIN: Das ist eine große Ehre für mich, aber es gab noch keinen Anruf aus Rom und deshalb bin ich hier in Alpbach.

Wenn die Regierung von FünfSterne-Bewegung und PD zustande kommt – hat sie eine Chance?

Das hoffe ich sehr. Diese Regierung wird ein sehr schwierige­s Leben haben, denn sie startet zu einem Zeitpunkt, wo Italien mitten in der Stagnation steckt. Italien hatte eine lange Krise ohne Wachstum, da warten die Leute jetzt auf Antworten. Die Regierung wird dann eine Chance haben, wenn sie diese liefert.

Eine fragile Zwangsehe?

Eine Zweckehe und Chance für Italien, da niemand dachte, dass zwei Parteien, die einander bei vielen Gelegenhei­ten angegriffe­n haben, die Ausdauer zeigen, in eine Koalition zu gehen. Aber sie haben in den Programmen auch Punkte gemeinsam.

Wo treffen sich linkspopul­istische Fünf-Sterne-Bewegung und Sozialdemo­kraten am ehesten?

Das Wichtigste ist das gemein

same proeuropäi­sche Commitment. Das sah man schon bei der Wahl der EU-Ratspräsid­entschaft, wo die Fünf-Sterne-Bewegung anders als die Lega, nämlich mit dem PD stimmte.

Italien steckt in einer Rezession und im Reformstau. Was ist zu tun?

Wir müssen ein solides mittelfris­tiges Investitio­nsprogramm starten und sind fiskalisch eingeschrä­nkt wegen unserer Verschuldu­ng. Die Frage wird sein, ob man flexibel ist für ein Investitio­nsprogramm für Bildung und Forschung. Sofort muss man das Sozialpake­t angehen, wo es aber unterschie­dliche Pläne gibt. Ich hoffe auf Kompromiss­e, die das Budget nicht zu sehr belasten. Dann sollte Konvergenz und Spielraum für eine Steuerrefo­rm da sein.

Eine Deadline erwartet die Regierung Mitte Oktober, wenn der Budgetentw­urf der EU-Kommission vorzulegen ist. Schon der geplatzten Regierung fehlten dafür 30 Milliarden Euro.

Das wird die Herausford­erung und man muss die 30 Milliarden auf sozial akzeptiert­e Art finden. Mit einem gegen die Bevölkerun­g gerichtete­n Paket ist es fraglich, ob eine Mehrheit hinter der Regierung steht.

Muss die EU bei der Staatsschu­ldenquote, mit 133 Prozent doppelt so hoch wie erlaubt, wegsehen?

Die Schulden sind bei tiefen Zinsen nicht die größte Sorge. Italiens Problem ist Wachstum.

Italiens gefährdete Banken?

Die Großbanken UniCredit und Intesa stehen solide da. Es gibt Probleme mit kleineren Banken, das Bankensyst­em konsolidie­ren muss aber Deutschlan­d ebenso wie Italien.

Kann die Regierung arbeiten oder wird Salvini sie täglich mit dem Migrations­thema treiben?

Die Migration von Libyen erfordert eine europäisch­e Antwort, die von der EU nicht geliefert wurde, was großen Ärger in der Bevölkerun­g geschürt hat. Das ist ein großes Thema, wo die EU Italien beistehen kann.

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Lucrezia Reichlin gestern in Alpbach: „Große Ehre für mich, aber es gab noch keinen Anruf aus Rom“ WINKLER

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