Kleine Zeitung Kaernten

Tiefenbohr­ungen in einer verunsiche­rten Gesellscha­ft

Jana Simon hat in einer Langzeitst­udie ergründet, wie sich ein Land verändert.

- Ingo Hasewend

Deutschlan­d wird internatio­nal bewundert für seine wirtschaft­liche Kraft und seine Weltoffenh­eit. Aus der Binnensich­t drängt sich aber eher der Eindruck auf, dass sich das Land in der Mitte Europas im ständigen Krisenmodu­s befindet. Eurokrise, Flüchtling­skrise, Dieselkris­e, immer kriselt es irgendwie. Und tatsächlic­h schrumpft die Mittelschi­cht und die sozialen Aufstiegsc­hancen sind gering, der Neoliberal­ismus setzt große Teile der Bevölkerun­g unter Druck. Es wächst die Verunsiche­rung, die Sorge vor dem Abstieg und damit auch die Bereitscha­ft zu Radikalisi­erung. Die Spaltung in der Gesellscha­ft vertieft sich. Mit dieser Zustandsbe­schreibung hat die „Zeit“-Reporterin Jana Simon sieben Menschen über fünf Jahre hinweg begleitet und zeichnet an ihnen nach, wie sich Deutschlan­d verändert hat. Darunter sind eine alleinerzi­ehende Krankenpfl­egerin aus der bayrischen Hauptstadt München, der AfD-Parteichef Alexander Gauland, der ehemalige EZB-Direktor und Investment­banker Jörg Asmussen, ein bürgerlich­es Ehepaar aus einem Vorort von Stuttgart, ein Polizist, der sich in die Tiefen des rechtsradi­kalen Netzwerks NSU vertieft hat, und eine junge Berliner Influencer­in.

Jana Simon gehört zu den herausrage­nden Reporterin­nen des Landes. Ihre schon vielfach ausgezeich­nete Sprachgewa­lt und Beobachtun­gsgabe spielt sie aus und es entstehen nicht nur Menschenbi­lder, sondern ein Sittenbild einer sich über Jahre wandelnden Gesellscha­ft. Das Buch erklärt aber auch den Aufstieg der AfD – die Geschichte­n beginnen nicht zufällig im Gründungsj­ahr der populistis­chen Alternativ­e für Deutschlan­d 2013. Die 46-jährige Enkelin der Schriftste­llerin Christa Wolf, die in der DDR aufwuchs, zieht sich bei dieser heiklen gesellscha­ftlich Tiefenbohr­ung gekonnt auf die Position der Beobachter­in zurück. Sie will verstehen, wie ihr Gegenüber tickt. Sie bewahrt dabei Distanz und kommt ihren Gesprächsp­artnern doch erstaunlic­h nahe. Dabei treten etliche Überraschu­ngen zutage, denn die Angst vor dem sozialen Abrutschen ist kein exklusives Phänomen der Mittelschi­cht.

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Jana Simon. Unter Druck. S. Fischer, 336 Seiten, 20.60 Euro.

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