„Wir versinken im Rausch der Optionen“
INTERVIEW. Philosoph Martin Liebmann ist Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit. Der Unternehmer über eine sinnbefreite Ökonomie und Mainstream-Erdmännchen.
Faul zu sein ist harte Arbeit“heißt Ihr Buch. Was, bitte, ist am Faulenzen hart?
MARTIN LIEBMANN: Weil die Welt so schnell ist, fällt es schwer, Tempo herauszunehmen.
Mitschwimmen ist bequemer?
Die Konvention verlangt nach Geschwindigkeit. Langsamkeit ist ein Affront gegen alle Werte, die in dieser durchökonomisierten Zeit wichtig sind.
Ist Langsamkeit eine ökonomische Bedrohung? In der Ökonomie ist Langsamkeit sicher ab und zu behindernd – Geschwindigkeit an der falschen Stelle aber auch. Es werden sehr viele Werte durch zu schnell getroffene Entscheidungen vernichtet.
Ihr Buch ist „Eine Ode an den Müßiggang“: Wie definieren Sie diesen? Innehalten und erst einmal nur schauen, etwa in den Sternenhimmel, oder auf den Berg zu gehen. Reflexionen, Gedanken und Kreativität kommen von alleine, ohne sich anzustrengen. Getaktet geht das aber nicht.
Müßiggang als Kalendereintrag funktioniert also nicht? Müßiggang lebt man wie so vieles vor allem durch Übung. Ich lange Jahre 90-StundenWochen und in den ersten zehn Jahren als Selbstständiger keinen Urlaub. Ich kenne das Hamsterrad in- und auswendig. Es hat mir damals auch Freude gemacht. Bloß: Aus blindem Aktivismus entstehen Scheinlösungen.
Viele Menschen beklagen die fehlende Orientierung heute. Der Wunsch nach Beständigkeit wird umso größer, je weniger Beständigkeit ich erfahren kann. Das ist wie in der Physik: Ein Vakuum zieht an. Und ein Sinnvakuum zieht die Sinnfragen an. Die Zeit und die Werte rinnen heute vielen wie Wasser aus den Händen.
Wächst das Sinnvakuum?
Mit zunehmender Geschwindigkeit, ja. Wenn es Firmen nur noch um Börsenwerte und Ergebnis geht und nicht mehr darum, ein gutes Auto zu bauen oder ein gutes Lebensmittel herzustellen, dann ist das völlig sinnbefreit.
Hier der Wunsch nach Entschleunigung, dort die Technologie, die Beschleunigung fördert: Wie kann man in diesem Spannungsfeld (über-)leben? Warum beschleunigen Techniken wie das Smartphone, aber auch Mobilität und Produktivität unser Leben, obwohl wir dadurch ja unendlich viel mehr Zeit haben könnten? Weil wir diese überkompensieren und im Rausch der Optionen sind: Weil wir es können, machen wir mehr. Weil wir Entfernung schneller überwinden, fahren wir mehr Kilometer.
Statt sich die gewonnene Zeit zu nehmen … … und sich die Frage zu stellen, was mir wirklich wichtig ist. Ein Beispiel: Im Schnitt aktiviert man am Tag sein Handy 88 Mal.
Was macht das mit uns?
Das zerstückelt, ja es zerhackfleischt unsere Zeit. Wie viel Fokussierung, Muße und Zeit habe ich, wenn ich alle zehn Mihatte nuten aufs Handy gucke? In der Arbeitswelt ist es eine Katastrophe, dass sich die Menschen nicht mehr konzentrieren können. Für das Glück des Einzelnen ist das noch katastrophaler.
Erklären Sie den Mechanismus.
Ich bewege mich nur mehr an der Oberfläche. Ein gepostetes Foto von Essen hat nichts mit Lebensqualität zu tun. Das nimmt mir Erfahrungsraum, um mich und die Welt zu spüren.
Wie entkommen Sie dem Hamsterrad? Mir hilft die Frage: Was ist mir wirklich wichtig? Ist es mir etwa wichtig, noch ein Geschäft mitzunehmen? Keiner macht einen Marathon im Sprinttempo – das
würde den Körper auslaugen. Wenn wir mental unseren Körper in Dauerbeschleunigung halten, nimmt uns das unseren Geist, unsere Muße, unsere Freiheit.
Reicht es, wenn jeder für sich der Beschleunigungsfalle entkommen will?
Die individuelle Perspektive reicht nicht aus. Nötig ist ein Prozess kollektiver Selbstbestimmung. Wir brauchen Diskurse darüber, wo Tempo gut ist, etwa bei Rettung und Feuerwehr. Und wo wir es in der Wirtschaft schnell haben wollen. Aber auch: In welchen Bereichen zerstört Tempo gutes Leben? Unter dem Strich ist die Klimakrise durch ein Zeitphänomen begründet, nämlich dass wir so schnell Ressourcen verbrauchen, dass die Natur nicht mehr nachkommt. Da gehört der gesellschaftliche Diskurs hin: Wie kriegen wir die Geschwindigkeit raus?
Ich habe von Ihnen gelesen, Stress mache süchtig. Wieso?
Positiver Stress wirkt durch das Gefühl der Selbstwirksamkeit wie eine Droge. Wenn ich viel erreiche, kann das abhängig machen. Ich suche die Bestätigung durch Anerkennung des Erfolgs von außen. Damit nehme ich mir aber meine Innenperspektive: Brauche ich Anerkennung von außen, um glücklich sein zu können, oder finde ich ein bisschen Glück auch in mir selbst?
Der Verein zur Verzögerung der Zeit, dem Sie vorstehen, war einmal exotisch. Ist der Wunsch nach Zeitverzögerung nicht bereits Mainstream?
Wir stellen uns auch dieses Jahr wieder die Frage, ob wir schon überflüssig sind. Ich denke das nicht: Der Mainstream ist heute noch immer die Quantität, alles muss messbar sein. Die Qualität ist aber wichtiger als mehr Effizienz. Wenn man ohne Richtung ganz viel Kraft verwendet, dann rotiert man und versinkt im Loch wie ein Erdmännchen. Das ist wie im Slapstick.