„Wir haben den Tod zur Diagnose gemacht“
Brisantes Buch der Mediziner Rudolf Likar und Georg Pinter: Warum Therapien in den letzten Stunden oft mehr Leid als Linderung bringen, welche Grenzen die Intensivmedizin hat, wo das Studium schwächelt und warum heute kein Mensch mehr gesund ist.
Studien zeigen: Ein hoher Anteil der Maßnahmen, die man in den letzten Tagen und Stunden zur Lebensverlängerung bei multimorbiden Menschen unternimmt, sind nicht notwendig, sondern führen nur zu einer Verlängerung von Leid. Das war ein Ausgangspunkt für Ihr Praxisbuch „Ethische Herausforderungen des Alters“. Was fehlt in der Versorgung alter Menschen in deren letzten Stunden?
RUDOLF LIKAR: Die Herausforderungen an die Intensivmedizin heute sind nicht mehr, was wir tun können, sondern wo sind die Grenzen und wo nehmen wir uns zurück, weil wir in bestimmten Fällen praktisch keine Selbstbestimmtheit der Patienten und keine Verbesserung der Lebensqualität erlangen können.
GEORG PINTER: Ärzte setzen die Überlebenszeit ihrer Patienten oft viel zu lange an. Das geschieht aufgrund der emotionalen Bindung zu Patienten auf der einen Seite und auf der anderen Seite geht es darum, was wir nicht gelernt haben: Zu erkennen und zu akzeptieren, dass der Weg unweigerlich an das Ende führt. Für einen Arzt, der zur Heilung beitragen soll, kann das schwierig sein. Da gibt es Versagensängste und das
Nichtbeschäftigen mit der eigenen Endlichkeit.
Was kann man ändern?
PINTER: Den Kollegen muss man vermitteln, dass da eine Systematik dahintersteht, die man lernen kann.
LIKAR: Aber das Studium heute ist verschult, keiner lernt, Entscheidungen zu treffen. Dass, was auf die Ärzte zukommt, kann man nicht nach Leitlinien runterbeten. Aber zu sagen, ich mache etwas nicht nach Leitlinien, sondern eine patientenspezifische Entscheidung wie den Abbruch einer palliativmedizinischen Behandlung: Das ist radikale Patientenorientiertheit. Da geht es um Entscheidungen, für die ich im Vorfeld die Kraft hätte aufbringen müssen, sie mit dem Patienten abzusprechen. Viele Ärzte denken nicht nach, dass sich die Lebensqualität durch Maßnahmen auch verschlechtern kann.
Erschwert das erweiterte Erwachsenenschutzrecht die Arbeit der Ärzte in solchen Situationen?
LIKAR: Wir Ärzte sollten uns nicht entmündigen lassen und die Entscheidung auf Angehörige abwälzen. Unsere Aufgabe ist es, Angehörige dort hinzuführen. Wenn ich zu einem
Lungenkranken sage, dass wir darauf schauen, wenn es zu schwerer Atemnot kommt, dass er schlafen kann, dann ist der froh, dass wir das ansprechen. Oder wenn wir darüber reden, ob er einen Atemschlauch will, wenn es dem Ende zugeht.
PINTER: Ein Fall aus meinem Freundeskreis: Bei einem Patienten ist mit 88 Jahren Krebs diagnostiziert worden. Weil der Patient so gut beinander war, hat man sich für eine Chemotherapie entschieden. Wenn man gewusst hätte, wie massiv die Nebenwirkungen sind, wäre diese nicht durchgeführt worden. Natürlich kann man das nie voraussehen. Aber ich habe das Gefühl, dass man diese Wege nicht immer gemeinsam mit Patienten geht.
LIKAR: Ich hatte einen Patienten, der hat in einem langen Behandlungszeitraum nie „Danke“gesagt. Als es zu Ende ging, bin ich bei ihm gesessen. Wir haben längere Zeit nichts gesprochen, dann hat er plötzlich „Danke“gesagt. Da habe ich gewusst, er wird gehen. Aber dieses Danke hören, diese Begegnung, das ist alles vorbei, wenn ich mich ausschließlich auf die Absicherungsmedizin verlasse. Das Danke, von dem wir leben, und aus dem wir Kraft schöpfen für unseren Beruf, werden wir dann nicht mehr erleben. Karl Kraus hat gesagt: Keiner ist geschwer sund, man ist nur unterdiagnostiziert. Man kann heute ja schon bei jedem von uns irgendeine Diagnose finden. Aber: Diagnostiziere ich den Patienten oder die Laborwerte?
Was müsste man für eine bessere, neu orientierte Altersmedizin ändern? Auch das Medizinstudium?
LIKAR: Im Studium wird erklärt, was wir alles mit Telediagnostik, Televisiten etc. machen können. Aber eine Hand zu halten, dem Patienten in die Augen zu schauen und zu fragen: Du, geht’s dir schlecht – das ist ein großer Unterschied im Vergleich dazu, wenn ich übers iPad – überspitzt formuliert – alles Gute wünsche. Wir schalten uns so selber aus. Das ist dann die teure Medizin.
PINTER: Wir haben in Kärnten eine Untersuchung über unnötige Transporte von Patienten aus Pflegeheimen gemacht. Da werden Menschen zum Sterben ins Krankenhaus geflogen. Eine zutiefst inhumane Medizin. Wir haben analysiert, warum das geschieht: Aus dem Beweggrund, dem Patienten zu helfen. Aber es hat keiner mit ihnen geredet, ob sie da überhaupt hinwollen.
LIKAR: Wir haben den Tod letztlich zu einer Diagnose gemacht. Menschen, die sterben, können auch ohne Arzt sterben. Aber wir versuchen alles zu therapieren. Zum Hinterfragen solcher komplexer Entscheidungen hilft mir keine perfekte WorkLife-Balance, sondern nur ein perfektes Medizinteam.
PINTER: Es braucht einen Systemwandel, auch mit uns selber. Wir haben ja noch Prüfungen gehabt, die wir mit und am Patienten präsentieren, beantworten mussten. Stattdessen gibt es heute Multiple- Choice-Tests,
die der medizinischen Realität nicht entsprechen. Die Ausbildung auf einzelnen Gebieten ist auf Tage geschrumpft. Auch in Spitälern, bei den Spezialisten und den Prozessen muss umgedacht werden: Sonst passiert das, was Likar sagt: Die Mortalitätsrate wird steigen.
LIKAR: Und wir können nicht alles reparieren. Wenn einer als alter, rostiger VW reinkommt, der geht nicht als Porsche raus. Wir müssen mehr in die Vorsorgemedizin investieren, aber wenn es keine Konsequenzen gibt, dann macht es keiner. Wir haben außerdem eine Krankheitsmedizin. Wenn du einen Arzt triffst, bekommst du eine Diagnose. Wenn man mit 80 mit einer Gelenksabnützung zum Arzt kommt, dann hat man eine Arthrose. Wieso kann ich nicht mit einer Gelenksabnützung, die in dem Alter normal ist, rausgehen?
PINTER: Weil man das sonst nicht abrechnen kann.
LIKAR: Auch hier liegt der Hund begraben. Das ist abstrus.
PINTER: Wir machen die Menschen krank, weil das System es erfordert.
LIKAR: Unsere Aufgabe ist es, Patienten zu fragen: Was ist sein Lebensziel? Wenn es ihm reicht, mit dem Rollator zum Tisch zu fahren, dann machen wir das. Schaffen wir das nicht, dann muss man als Arzt darauf aufmerksam machen. Das Therapieziel Lebensqualität bestimmt der Betroffene. Reinhören als Arzt, sich zurücknehmen, nachdenken. Darum geht es.
PINTER: Ich frage sehr alte Patienten: Was haben Sie für einen Wunsch? Da sind sie oft überrascht. Das sind sie meist noch nie gefragt worden.