Sind die 9er-jahre historisch wirklich so aufgeladen?
Ihob’s schon immer gewusst“, ist Teil des Grundrepertoires des unerschütterlichen Stammtischphilosophen im Angesicht von wirtschaftlichen, und politischen Skandalen, Naturkatastrophen oder anderwärtigen Tragödien. Der Ursprung dieser mutmaßlichen allwissenden Deklaration liegt einem zutiefst menschlichen Verlangen zugrunde: Wir Menschen sind ewig auf der Suche nach Gewissheit, speziell dort, wo Ungewissheit herrscht. Aussagen wie die oben genannte sind Schutzmechanismen, die uns vor unvorhersehbaren Ereignissen, der Willkürlichkeit des Lebens schützen, indem sie Allwissenheit suggerieren.
Doch wird der Stammtischphilosoph aufgefordert, seine Meinung zu begründen, kann er dies trotz der Wiedergabe einer Anzahl von Fakten oft nicht im Detail tun. Meist basiert seine Meinung auf einem „Bauchgefühl“. Und augenscheinlich kausale Zusammenhänge entpuppen sich bei näherer Analyse häufig als bloße Zufälle. Dennoch haben sich auf Scheinkausalitäten berufende Verschwörungstheorien heute Hochkonjunktur (man google nur „11. September“oder „Ibiza Gate“). Einer der Gründe, warum diese Theorien selbst in gut gebildeten Kreisen Einzug halten, hat aber nicht mit einem Hang zur Verschwörung an Stammtischen zu tun, sondern mit der linearen Erzählweise der Geschichte, wie sie in Geschichtsbüchern zu finden ist.
Wegen des Platzmangels und um komplexe politische Ereignisse leicht verständlich zu machen, wird Geschichte dort oft als eine Abfolge von eng anei
gereihten kausalen Prozessen dargestellt, in der das Endresultat vorbestimmt ist.
In solchen Darstellungen legte Napoleon bereits bei seiner Machtergreifung 1799 die Grundlage für seinen Fall 1815. Alle anderen Ereignisse in den 16 Jahre dazwischen – von der Krönung zum Kaiser 1804 bis zum Russlandfeldzug 1812 – tragen nur zum unabwendbaren Ende bei. Dass Napoleons Leben auch einen anderen Ausgang hätte finden können, also nicht vorherbestimmt war, wird der linearen Erzählweise der Geschichte geopfert (zum Beispiel: Was wäre passiert, wenn Napoleon bei Waterloo nicht Durchfall gehabt hätte?). In diesem Sinne haben die Geschichtsschreibung und Stammtischphilosophie einiges gemeinsam: Beide propagieren eine historische Gesetzmäßigkeit, die den Eingeweihten Allwissenheit beschert. ass aber so eine Allwissenheit nichts anders ist als ein literarisches Werkzeug, wird spätestens klar, wenn man sich einige historische Umbrüche aus vergangenen „9er-jahren“ansieht. So hätten die Unterzeichner des Briand-kellogg-paktes, eines Vertrages zur Ächtung des Krieges, der 1929 in Kraft trat und damals breite Unterstützung in Europa fand, eigentlich wissen müssen, dass ihre Bemühungen vergebens sind, und nur zehn Jahre später im Sommer der größte Krieg der Menschheitsgeschichte beginnen würde. Und auch den Unterzeichnern des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im August 1939 hätten hellseherische Fähigkeiten gutgetan. Schließlich
Dwar zehn Jahre später das Deutsche Reich zerschlagen, dessen Ostgebiete abgetrennt und von sowjetischen Truppen besetzt. Und die Sowjetunion hatte mit dem Test ihrer ersten Atombombe im August 1949 ihre Rolle als militärischer Hegemon des europäischen Kontinents endgültig etabliert.
Auch hätte Erich Honecker, als er im Oktober 1989 auf der Ehrentribüne stand und Tausende Soldaten der Nationalen Volksarmee zum 40. Jahrestag der DDR an ihm und der Elite der kommunistischen Regime Osteuropas vorbeidefilierten, ahnen müssen, dass er und sein Staat ein paar Wochen danach auf dem „Aschehaufen der Geschichte“landen würden und den großen Bruder, die Sowjetnander union, nur ein paar Monate später das gleiche Schicksal ereilen würde. Und zwanzig Jahre später hätte Barack Obama während seiner Antrittsrede als Präsident der Vereinigten Staaten im Jänner 2009 vermuten können, dass wiederum zehn Jahre später ein Reality-tv-star und ehemaliger Kasinobesitzer dasselbe Amt innehaben würde und seine politischen Errungenschaften sich nach und nach in Luft auflösen würden. ass es nicht zwangsläufig zum Weltkrieg, dem Kalten Krieg oder zur Präsidentschaft Trumps kommen musste und die Geschichte sich auch anders hätte entwickeln können, sei dahingestellt. Selbstverständlich stehen die oben genannten Ereignisse in
D
Von Franz-stefan Gady
1789 begann die Französische Revolution, 1799 ergriff Napoleon die Macht, 1939 brach der Zweite Weltkrieg
aus, 1979 stürzte im Iran der Schah, 1989 fiel der Eiserne Vorhang. Alles Zufall? Ja. Wer Gegenteiliges behauptet, hat vom Wesen der Geschichte wenig verstanden.